Die Chilenen stehen am Sonntag (4.) vor einer historischen Entscheidung: Bleiben sie bei einer marktfreundlichen Verfassung aus der Zeit des Militärdiktators Augusto Pinochet oder nehmen sie einen fortschrittlichen neuen Text an, der das politische und soziale Gefüge des Andenlandes zu erschüttern verspricht. Das kupferreiche Land ist tief gespalten und alle Umfragen deuten darauf hin, dass der neue Text abgelehnt werden wird, obwohl die Bevölkerung die Abschaffung der Verfassung aus der Pinochet-Ära vor zwei Jahren nach monatelangen feurigen Protesten gegen die Ungleichheit stark befürwortet hat. Die Abstimmung ist ein Scheideweg für Chile, das lange Zeit als eine Bastion des Konservatismus und der marktorientierten Wirtschaftspolitik galt, die jahrzehntelang für Wachstum und Stabilität sorgte, aber auch für eine große Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Nach Meinung der Befürworter ist die neue Verfassung der Schlüssel zur Überwindung der jahrzehntelangen Ungleichheit und stellt fortschrittliche Rechte und die Umwelt in den Mittelpunkt des sozialen Gefüges des Landes.
Fast achtzig Prozent der Chilenen stimmten für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung im Oktober 2020. Eine gewählte 155-köpfige Versammlung, die überwiegend aus unabhängigen und fortschrittlichen Wählern besteht, begann im darauffolgenden Mai mit der Ausarbeitung der Verfassung, die Anfang dieses Jahres abgeschlossen wurde. Doch der Enthusiasmus hat nachgelassen, da die chilenische Wirtschaft unter den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, der steigenden Inflation und dem historischen Tiefstand der Währung zu leiden hat. Das hat die Unterstützung für die Verfassung und ihren Befürworter, den progressiven Präsidenten Gabriel Boric, erheblich beeinträchtigt. Den jüngsten Umfragen zufolge liegt das Lager der Ablehner mit sechsundvierzig zu siebenunddreißig Prozent fast zeh Prozentpunkte in Führung. Etwa siebzehn Prozent sind allerdings noch unentschlossen.
Angesichts der Zahl der unentschlossenen Wähler und der Wahlpflicht im Gegensatz zu früheren Wahlen, bei denen die Stimmabgabe freiwillig war, bleibt eine gewisse Ungewissheit. Boric hat bereits erklärt, er werde einen weiteren Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung einleiten, falls die derzeitige am Sonntag scheitern sollte, während andere politische Fraktionen den aktuellen Text ändern wollen. Unabhängig vom Ergebnis sagen Experten, dass die Chilenen immer noch den Wandel wollen, den sie für 2019-2020 gefordert haben.
Update, 5. September
Nach Auszählung von mehr als neunundneunzig Prozent der Wahllokale und offiziellen Angaben zufolge erhielt die Ablehnung der Verfassung eine „überwältigenden Mehrheit von 61,92 Prozent“. Die von Präsident Gabriel Boric unterstützte Option, die neue Verfassung anzunehmen, wurde nur von 38 Prozent der Wähler befürwortet. Die Option „Ablehnung“ gewann in allen 16 Regionen des Landes, während die Option „Ich stimme zu“ nur im Ausland erfolgreich war (mehr als 65 Prozent der in Spanien lebenden Chilenen stimmten der neuen Verfassung zu). Bei dem Referendum (obligatorische Teilnahme) haben rund dreizehn Millionen Menschen ihre Stimme abgegeben, von denen sich 7,8 Millionen gegen den Vorschlag ausgesprochen und weitere 4,8 Millionen dafür gestimmt haben.
Laut Analysten ist der überwältigende Triumph der „Ablehnung“ bei der Verfassungsabstimmung darauf zurückzuführen, dass „das Thema Plurinationalität am meisten Aufsehen erregte“ und es wird schwierig sein, die Auswirkungen vorherzusehen, die das Ergebnis auf die Boric-Regierung haben wird. „Das vorgestellte Projekt hatte nicht viel mit der Tradition des Landes zu tun“, so analysierte der chilenische Analytiker und Akademiker Iván Witker.
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