Rede von Außenministerin Annalena Baerbock in São Paulo

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Die Außenministerin hält bei einer der wichtigsten Denkfabriken Lateinamerikas eine geoökonomische Grundsatzrede (Foto: FGV ECMI)
Datum: 06. Juni 2023
Uhrzeit: 16:43 Uhr
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Autor: Redaktion
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Deutschlands Außenministerin Baerbock und Arbeitsminister Heil befinden sich auf einer gemeinsamen Lateinamerika-Reise (Kolumbien und Panama) und sind aktuell in Brasilien. Beide wollen im größten Land Südamerikas über Kooperationen auf dem Arbeitsmarkt, Umweltschutz und den Krieg in der Ukraine. Die Außenministerin hält bei einer der wichtigsten Denkfabriken Lateinamerikas eine geoökonomische Grundsatzrede und sendet dabei deutliche Signale an ihre Gastgeber – und an ein anderes großes Land.

Rede von Außenministerin Baerbock

„Als ich Präsident Lula zum ersten Mal getroffen habe, bei der Klimakonferenz in Sharm el Sheik in Ägypten – der COP 27 –, da hat er zu mir gesagt: „Wir können über alles sprechen. Aber ein Kapitel aus der deutsch-brasilianischen Geschichte würde ich gerne vergessen.“ Ich habe kurz gestutzt und dann gedacht: Ok, was kommt jetzt? Und dann hat er sein freundliches Lächeln, das auch bei uns in Europa sehr bekannt ist, aufgelegt und hat zu mir gesagt: „Sieben zu eins.“ Ich kann Ihnen versprechen: Ich werde heute nicht über Fußball reden. Auch wenn Ihr größter Fußballstar schon immer auch mein sportliches Idol war: Sechsmal Weltfußballerin des Jahres – Marta hat mich als Jugendliche in meinem Dorf-Fußballklub immer inspiriert und animiert. Und sie ist, glaube ich, für ganz viele unvergessen. Ich will daher also heute nicht über Fußball reden, auch wenn Fußball viel mit Demokratie zu tun hat. Man lernt da als allererstes – bei bei uns heißt das in der F-Jugend – dass man nur gemeinsam spielen kann, wenn sich alle an Regeln halten. Und alle verstehen, dass eine rote Karte auch eine rote Karte bedeutet. Und dass Fairplay uns alle gemeinsam eint. Und dieses Fairplay, dieses Miteinander, das Verständnis von Freundschaft, das ist etwas, das unsere beiden Länder eng verbindet. Und daher halte ich mich an die Vorgabe Ihres Präsidenten, rede also nicht über Fußball, sondern über Freundschaft.

Über Freundschaft, das heißt, was uns verbindet, wie wir unsere Partnerschaft für die Zukunft gemeinsam aufstellen können. Auch wenn, Herr Präsident Lula, Sie haben das gerade deutlich gemacht, die Herausforderungen größer sind als je zuvor. Unsere Gesellschaften verbindet dabei der Glaube daran, dass Menschen selbst entscheiden können, welche Partei sie wählen, welchen Beruf sie ergreifen, wen sie lieben oder wie sie leben. Die große Legende der Samba-Musik Elza Soares, die letztes Jahr von uns gegangen ist, hat einmal gesungen – und nun wird es etwas schwierig: „Sou meu próprio patrão – e ninguém me manda.“ Ich bin meine eigene Herrin. Niemand sagt mir, was ich zu tun habe. Ich glaube, dieses Lied hat einen Nerv getroffen bei vielen von uns. Bei Ihnen, aber auch bei uns. Und vielleicht auch einen ganz besonderen Nerv bei Frauen. Weil wir alle den Wunsch haben, selbst über unser Leben zu entscheiden. Als Menschen, als Männer und Frauen, als Kinder und Jugendliche. Aber vor allem als Gesellschaften – denn das ist der Wesenskern unserer Demokratien.

Als Gesellschaften, in der die Tochter einer Reinigungskraft und eines Fabrikarbeiters aus Rio de Janeiro zu einer der größten Samba-Musikerinnen der Welt werden kann. Als Gesellschaft, in der ein Junge aus Pernambuco, der mit zwölf Jahren als Schuhputzer arbeitete, um seine Familie zu unterstützen, das höchste Amt des Staates erreichen kann. Es sind diese Erfahrungen von Aufstieg und von Selbstbestimmung, die unsere Länder stark machen. Aber wir haben zuletzt immer wieder erlebt, dass unser Leben in einer offenen Gesellschaft nicht selbstverständlich ist. Dass unsere Sicherheit verletzlich ist. Dass Demokratie und Freiheit nicht vom Himmel fallen. Auch wenn viele von Ihnen und auch ich – als Jüngere, jedenfalls in unserer Gesellschaft, die relativ alt ist – das große Glück hatten, immer in Frieden und Freiheit aufwachsen zu können. Als am 8. Januar hunderte Menschen das Parlament in Brasilia gestürmt haben, da haben wir auch in Deutschland den Atem angehalten. Es war ein Angriff auf das Herz der brasilianischen Demokratie. Ausdruck einer extremen Polarisierung in der Gesellschaft und einer Verrohung in der Politik – eine gefährliche Entwicklung, die wir leider auch in Europa, auch in Deutschland sehen. Aber dass Brasilien so entschieden und geschlossen auf diesen Angriff reagiert hat, das hat auch gezeigt: demokratische Institutionen, demokratische Gesellschaften sind wehrhaft.

Das hat, glaube ich, – nach den Gesprächen, die wir in den letzten Stunden hier bei Ihnen geführt haben – nicht nur Ihrer Gesellschaft neue Kraft gegeben, sondern auch uns in Europa. Und das liegt auch an starken Stimmen aus der Zivilgesellschaft wie der Fundação Getulio Vargas. Ihre wissenschaftlichen Analysen bringen Fakten und Vielfalt in Debatten. Sie erreichen so, die Demokratie lebendig zu halten. Zum Beispiel mit dem Demokratieforum, das Sie seit 2018 mit der deutschen Botschaft organisieren. Deswegen bin ich sehr dankbar, dass wir heute bei Ihnen sein können, dass wir heute hier für die Demokratie zusammenkommen können. Denn die Welt befindet sich in einem radikalen Umbruch, der die Handlungsfähigkeit unserer Demokratien nicht nur im Inneren, sondern auch im Äußeren herausfordert.
Dabei fließen Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik immer stärker ineinander über. Wo früher manchmal naiv auf die unsichtbare Hand des Marktes vertraut wurde, ist es jetzt allzu oft die Hand von autokratischen Regimen, die Unternehmen als geopolitische Instrumente nutzen wollen. Als Demokratin können wir uns jetzt nicht zurücknehmen, sondern sollten diesen Wandel aktiv mitgestalten. Damit wir auch in Zukunft die Herrin über unser Leben bleiben – so wie das Elza Soares formuliert hat.

Die Herausforderungen sind dabei riesig. Auch das ist aus meiner Sicht wichtig in einer demokratischen Gesellschaft – dass wir als Politik nicht suggerieren: Das lösen wir alles mit einem Fingerschnipps. Weil manche Dinge, manche Prozesse anstrengend sind, weil sie Jahre dauern und weil sie Kompromisse brauchen. Kompromisse sind ein essenzieller Bestandteil unserer Demokratien. Und die Fähigkeit zum Kompromiss – die Fähigkeit zu sagen: Der Andere hat auch recht – das ist das, was demokratische Gesellschaften und demokratische Parteien von Populisten und Autokraten unterscheidet. Wir sehen zugleich, wie hart der ökonomische Druck auf demokratische Gesellschaften ist, wie er den Boden für das einfache Argument, für Fake News und populistische Antworten bereitet. Wir sehen das in diesen Tagen wieder so deutlich, wo in vielen Ländern schwache Wachstumszahlen und weltweit steigende Preise Gesellschaften herausfordern: Teure Energie und Nahrungsmittel treffen gerade die Ärmsten in unseren Ländern. In Brasilien natürlich noch viel härter als bei uns – aber auch bei uns. Unsicherheiten in Lieferketten gefährden unsere Versorgung mit lebenswichtigen Gütern. In Deutschland sind es Antibiotika und in Brasilien Düngemittel. Die digitale Revolution schafft mit künstlicher Intelligenz nicht nur neue Chancen, sondern auch neue Risiken für unsere Demokratie. Von Desinformation mit „Deep Fakes“ bis zu autonomen Waffensystemen, die nicht mehr von Menschen kontrolliert werden.

Die Klimakrise vertreibt weltweit drei Mal mehr Menschen als regionale Konflikte. Erst im Februar haben dutzende Menschen bei Ihnen hier durch Überschwemmungen im Bundesstaat São Paulo ihr Leben verloren. Und einige autoritäre Regime wollen die Welt in Einflusssphären aufteilen und Länder unterwerfen, statt die selbstbestimmte Entwicklung aller Staaten zu respektieren. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Dieser Angriff ist nicht nur ein schwerer Schlag auf unsere europäische Friedensordnung, sondern auch ein schwerer Schlag gegen das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen. Ich möchte klar sagen: Ich kann mehr als verstehen, dass die Bedrohung dieses Krieges bei Ihnen hier in Lateinamerika anders wahrgenommen wird als bei uns in Europa. Ich habe überall auf der Welt gehört: Zum einen: „Wo wart Ihr, als wir euch brauchten?“. Aber auch „Wo ist eigentlich die Ukraine?“. Und daher kann ich mehr als verstehen, dass eine Mutter aus Itaquera oder Campinas sagt: „Für mich ist entscheidender, was diese Woche Reis und Bohnen im Supermarkt kosten als das, was in einem Land passiert, das 11.000 Kilometer weit weg ist.“ Aber, und dafür möchte ich werben, deswegen sind wir zu zweit als Ministerin und Minister hier, deswegen waren der Bundespräsident und der Bundeskanzler hier: Nicht nur, um unsere gemeinsame Freundschaft zu vertiefen, um für unsere gemeinsamen Demokratien einzustehen. Sondern auch um zu erläutern, dass dieser Krieg in der Ukraine uns nicht nur kalt erwischt hat als Europäer – die immer geglaubt haben, gemeinsam mit Russland in Frieden leben zu können, wie Sie das hier auf Ihrem Kontinent gemeinsam mit Ihren Nachbarländern tun –, sondern dass es auch der russische Krieg gegen die Ukraine ist, der weltweit die Preise von Lebensmitteln, der weltweit die Preise für Reis und Bohnen in die Höhe treibt.

Sicherheit und Entwicklung sind keine Gegensätze, sondern sie bedingen einander. Und wenn wir einen so brutalen Bruch der Charta der Vereinten Nationen, der regelbasierten internationalen Ordnung ignorieren würden – dann hätte sich nicht nur der Aggressor durchgesetzt, sondern dann hätte auch der freie Handel keine Chance mehr. Denn wie im Fußball: Wenn manche sich nicht an die Regeln halten, wenn sie die Spielregeln einfach nicht akzeptieren, dann kann es kein faires Spiel mehr geben. Deswegen werbe ich bei Ihnen heute hier – bei meinen Gesprächen mit der Regierung, an ganz unterschiedlichen Orten – dafür, dass wir gemeinsam alles dafür tun, dass es endlich wieder Frieden in der Ukraine gibt. Und das beginnt aus meiner Sicht damit, den Aggressor beim Namen zu nennen. Und es beginnt damit – und dafür sind wir mehr als dankbar – dass wir gemeinsam in den Vereinten Nationen unsere Stimme erheben. 142 Staaten haben auch bei der letzten Generalversammlung im Februar deutlich gemacht: Wir stehen für unsere regelbasierte internationale Ordnung ein. Brasilien so wie Deutschland, so wie viele afrikanische Länder, asiatische Länder – Länder auf der ganzen Welt. Dazu gehört, dass wir nicht nur mit Blick auf den russischen Angriffskrieg, sondern auch weit darüber hinaus immer da, wo unsere regelbasierte internationale Ordnung herausgefordert wird, uns gemeinsam für diese Regeln in einer multipolaren Welt einsetzten.

Denn dann können wir alle gemeinsam profitieren. Und ja, eine multipolare Welt ist eine andere Welt als 1970. Zum Glück, sonst hätte sich die Welt nicht weiterentwickelt. Und das Leben entwickelt sich immer weiter, sonst wären wir alle kleine Kinder geblieben. Deswegen bedeutet für mich demokratische Politik, immer auch aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen – aber gleichzeitig zu erkennen, dass es unser großes Glück ist, dass wir gemeinsam die Zukunft immer wieder neu gestalten können. Dazu gehört für uns auch – und das eint unsere beiden Länder, Deutschland und Brasilien – dass die internationalen Institutionen diese Welt so abbilden, wie die Welt heute ist. Zum Beispiel mit einem permanenten Sitz aus Afrika und Lateinamerika im UN-Sicherheitsrat. In diesem Sinne bauen wir gemeinsam an unserer globalen Partnerschaft. Das ist unser gemeinsames Interesse – und es basiert auf unseren gemeinsamen Werten. Und dafür sind aus meiner Sicht in diesen Zeiten drei Dinge entscheidend.

Erstens sichern wir nachhaltige Handelsbeziehungen, die allen Seiten nützen. Weil Sicherheit und Entwicklung zusammengehören. Es gibt keinen Ort Brasiliens, der so sehr für unsere starke wirtschaftliche Zusammenarbeit steht wie São Paulo. Über 1.000 deutsche Unternehmen machen diese Stadt zum größten Standort der deutschen Wirtschaft außerhalb Europas. Deutsche Unternehmen sind für jeden zehnten Dollar der Wertschöpfung der brasilianischen Industrie verantwortlich. Aber damit unsere Unternehmen auch in Zukunft wettbewerbsfähig sind, müssen sie in den Leitmärkten der Zukunft präsent sein ­– von der Elektromobilität bis zu umweltschonenden Düngemitteln. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass Ihr Land mit China ein größeres Handelsvolumen hat als mit allen G7-Staaten zusammen. Und auch die Digitalisierung wird unser Wirtschaftsmodell radikal verändern. Laut einer Studie von Goldman Sachs könnte Künstliche Intelligenz bis 2025 alleine in den USA und in Europa 300 Millionen Arbeitsplätze ersetzen. Aber gleichzeitig könnte KI den Wert aller jährlich produzierten Waren und Dienstleistungen bis 2025 um 7 Prozent steigern. Es kommt also darauf an, wie wir künstliche Intelligenz nutzen. Auch das ist Sinn von Politik, neue Prozesse und Innovationen zu gestalten. Es ist also eine riesige Chance, wenn wir dafür sorgen, dass künstliche Intelligenz dem Menschen dient und nicht umgekehrt.

Wir wollen diese Transition, die vor uns liegt, gemeinsam mit Ihnen gestalten. Ein kleiner Einblick in das, was wir in Europa tun: Wir investieren nicht nur massiv in erneuerbare Energien und fördern europäische High-Tech-Innovationen, sondern wir fokussieren uns auch auf die Fragen der Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Allein der European Chips Act wird insgesamt 43 Milliarden Euro für die Produktion von Halbleitern mobilisieren. Und es ist für uns wichtig, auch aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen: Dass wir dabei nicht nur auf uns bauen, nicht nur auf unsere Interessen achten; dass wir nicht auf Protektionismus setzen, sondern auf Offenheit. Wir gestalten diesen Umbruch zusammen mit unseren Partnern, weil wir von der Nachfrage in Brasilien, Argentinien oder Kolumbien profitieren, aber auch, weil wir gemeinsam Wirtschaft, Wertschöpfungsketten und Technologiekooperation in der Region ausbauen wollen. Weil wir gemeinsam voneinander lernen können. Deswegen ist mir so wichtig, dass wir, wenn wir über Handel und Freihandelsabkommen sprechen, nicht einfach nur über Zollsenkungen diskutieren. Präsident Lula hat absolut recht, wenn er zu den Verhandlungen des Mercosur-Abkommens mit der Europäischen Union sagt: „Dieses Abkommen muss inklusiv sein und sozial.“

Und gleichzeitig ist aus meiner Sicht wichtig, dass dieses Abkommen ökologisch nachhaltig ist. Wir wollen – beide – keine Daumenschrauben für unsere Unternehmen. Aber wir wollen die richtigen Anreize und Regeln setzen und wir wollen, dass wir mit Handelspolitik nicht das einreißen, was wir mit Sozialstandards, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und dem Pariser Klimaabkommen aufbauen. Mit dem Mercosur-Abkommen schaffen wir für brasilianische Produzenten auf einen Schlag den Anreiz, einen Markt von fast 450 Millionen Menschen mit nachhaltigen und entwaldungsfreien Produkten zu beliefern. Wir können also zusammen weltweit Standards für soziale und nachhaltige Handelspartnerschaften im 21. Jahrhundert prägen. Und ich weiß, es gibt einige Fragen, die wir auch bei uns diskutieren: Wie können wir diese sozialen und nachhaltigen Kriterien verbindlich machen, ohne das Entwicklungspotenzial zu bremsen? Aber eine Gegenfrage ist immer: Was wäre gewonnen, wenn wir das nicht versuchen und vor allen Dingen nicht hinbekommen, wenn wir diese Chance einfach verstreichen ließen? Dann setzen Andere die Standards. Wir haben erlebt, dass – auch weil wir in den letzten Jahren als Europäer vielleicht diese Beziehungen nicht intensiv genug ausgebaut haben – dass, auch aufgrund der Herausforderungen von einigen Regierungen hier vor Ort, Andere, gerade chinesische Akteure, diese Lücken gefüllt haben.

Deswegen werben wir so stark dafür, dass wir das Mercosur-Abkommen, das schon ausverhandelt ist, ergänzen, um eine Verbindlichkeit bei sozialen und nachhaltigen Kriterien. Dass wir das Abkommen auf die Höhe unserer Zeit bringen und damit deutlich machen, dass Demokratien, wenn sie zusammenarbeiten, globale Herausforderungen lösen können. Denn in diesen Zeiten ist Mercosur aus meiner Sicht mehr als nur ein Handelsabkommen. Es ist auch eine geopolitische Antwort auf Fragen in unseren Gesellschaften zum Mehrwert von Demokratie. Wir können zeigen, dass Demokratien besser freundschaftlich miteinander zusammenarbeiten können, dass Demokratien Lösungen bringen und nicht Autokratien, wo am Ende das Recht des Stärkeren zählt. Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Nur wer nicht komplett abhängig ist, kann wirtschaftlich frei und souverän agieren. Ich möchte das an einem Beispiel erklären. Im Juli 2020 gab es in einer großen Fabrik in China nach einem Unfall mehrere Explosionen. Die Produktion musste daraufhin angehalten werden. Die Fabrik gehörte einer chinesischen Firma, die Polysilikon herstellt. Dieser Rohstoff ist ein Material, das zum Lebenselixier der grünen Transformation gehört, denn man braucht ihn, um Solarzellen herzustellen. Die Internationale Energieagentur schätzt, dass Polysilikon bald zu 95 Prozent in China produziert wird. Nach dem Unfall ist das weltweite Angebot für den Rohstoff auf einen Schlag um 10 Prozent eingebrochen. Die Preise auf dem Weltmarkt stiegen um 50 Prozent.
Und das war nur ein Unfall in einer Produktion – nicht politisch gesteuert. Dieses Beispiel zeigt aber: Einseitige Abhängigkeit, erst recht, wenn sie kein Unfall ist, sondern politisch gesteuert, macht uns verwundbar.

Deswegen setzen wir als Europäer auf neue Partner und auf alte Freundschaften und vertiefen unsere globalen Partnerschaften. So haben wir zum Beispiel mit Chile beschlossen, den Abbau und die Fertigung von Lithium zu fördern – und dabei wieder zu lernen aus dem, was in der Vergangenheit nicht optimal war. Auch mit Brasilien wollen wir unsere Energiepartnerschaft ausbauen und stärker den nachhaltigen Abbau von Rohstoffen fördern. Stellen Sie sich die Chancen für diese Kooperation vor: Nur ein paar Kilometer von hier in Sao Bernardo do Campo produziert Mercedes seit fast 70 Jahren Busse. Und seit 2002 sind diese Busse elektrisch. Da haben Sie uns einiges voraus, denn bei uns fahren die Busse noch nicht elektrisch. Einer der wichtigsten Rohstoffe für die Batterien der Busse ist Lithium. Wenn wir es schaffen, dass Lithium bald in Brasilien nicht nur abgebaut wird, sondern auch verarbeitet wird, dann machen wir diese Produktion viel, viel unabhängiger von Lieferengpässen und sichern damit hier vor Ort tausende Arbeitsplätze, schaffen mehr Wertschöpfung vor Ort und machen uns wiederum weniger abhängig von anderen Akteuren. Wenn uns unsere Partner dabei unterstützen, strategisch wichtige Rohstoffe besser zu erschließen, dann tun wir das umweltschonend, sozial und wirtschaftlich nachhaltig – und das ist eben der Mehrwert von unserer Freundschaft, von unseren wirtschaftlichen Beziehungen. Weil wir als Europäer, so wie Sie, keinen neuen Goldrausch befeuern wollen, keinen Raubbau, der nur schnelles Geld für wenige und verseuchte Böden für alle hinterlässt. Stattdessen können wir an Partnerschaften arbeiten, die nicht nur unsere Lieferketten sicherer machen, sondern auch das Leben der Menschen vor Ort, gerade der vielen Indigenen in den betroffenen Gebieten.

Und das bringt mich zum dritten Punkt unserer Partnerschaft: Die Eindämmung der Klimakrise. Bei den Weltklimaverhandlungen in Sharm el Sheik hat Präsident Lula auch zu mir gesagt: „Brasilien ist zurück beim Klimaschutz.“ Und ich muss sagen, es hat gutgetan, das zu hören. Denn die Welt hat euch, hat Brasilien vermisst: O mundo estava com saudade do Brasil. Wir werden diese Krise nur gemeinsam eindämmen können. Nichts gefährdet unsere Sicherheit und Selbstbestimmung so sehr wie die steigenden Meeresspiegel, die Menschen aus Küstenregionen vertreiben oder Dürren, die die Ernten unser Bauern zerstören. Deshalb brauchen wir Brasilien als starke Stimme bei den UN-Klimaverhandlungen, um dieses Jahr in Dubai ein ambitioniertes Ergebnis zustande zu bekommen. Wir brauchen Brasilien aber auch, um Treibhausgasemissionen zu senken. Weil Ihr Land Vorreiter ist. Wir können viel von Ihnen lernen. Ihr Land erzeugt schon jetzt fast 90 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien. Damit sind Sie weltweit Vorreiter der grünen Energie. Der Amazonas, das wissen Sie besser als wir, speichert jedes Jahr mehr als 1,5 Milliarden Tonnen CO2. Wir können kaum so viele Kohlekraftwerke stilllegen, wie dieser Wald jährlich ausgleicht. Dieser Wald – das ist einer unserer gemeinsamen weltweiten Kipppunkte.

Deswegen ist es so wichtig, dass sich die brasilianische Regierung vorgenommen hat, den Amazonas besser zu regulieren und illegale Rodungen zu verhindern. Aber genauso zentral ist es dabei auch – das haben wir bei uns beim Kohleausstieg gelernt, dass es immer auch um Menschen geht: Die Menschen vor Ort mitzunehmen, deren Existenzgrundlage davon abhängt, den Wald schonend zu nutzen, zum Beispiel mit nachhaltigem Kakao-Anbau. Daher haben wir darüber gesprochen, zwischen unseren Regierungen, zwischen der EU und Brasilien, wie wir finanzielle Anreize setzen können, damit Waldschutz auch wirtschaftliche Entwicklung fördert. Der Amazonien-Fonds ist eines der erfolgreichsten Klimafinanzierungsinstrumente der Welt. Und ich bin froh, dass wir als Bundesregierung dieses Instrument, diesen Fonds gerade jetzt weiter auch finanziell stärken können und das in Zukunft weiter tun werden. Denn klar ist: Ohne Brasilien werden wir die 1,5-Grad-Grenze nicht einhalten können. Und gleichzeitig haben wir die große Chance, unser Potenzial für eine gemeinsame Partnerschaft, für eine sozial gerechte, ökologische und wahrhaft grüne Transformation zu nutzen.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Studierende, es war mir ein Herzensanliegen, persönlich auch hier zu Ihnen zu reisen, um über unsere Partnerschaft zu sprechen und vor allen Dingen, konkrete Angebote zu machen. Lassen Sie uns die Hände reichen und gemeinsam eine Zukunft gestalten, von der alle profitieren. Eine Partnerschaft, die unsere Demokratien stärkt. Die zeigt, dass Demokratien stärker sind als Autokratien. Eine Zukunft, in der die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren. Eine Zukunft, in der Menschen selbst entscheiden, wie sie leben und wen sie lieben. Eine Zukunft, in der sich unsere Gesellschaften frei entwickeln können. Eine Zukunft, in der jede und jeder Einzelne von uns sagen kann: Ich bin meine eigene Herrin. Niemand sagt mir, was ich zu tun habe. Sou meu próprio patrão, ninguém me manda.

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