Die von der Natur meistgebeutelte Stadt ist Gonaïves, Gonayiv in Kreyòl, zweifellos. Sie erreichte traurige Berühmtheit als Stadt der Katastrophen, Stadt der Hurrikane, Stadt der Sintfluten, Stadt der Zombies, und der normalen Toten. Schon lange vor dem Erdbeben, aber nach den Medien – denn von den älteren Katastrophen, die es zweifellos auch gegeben hatte, hörte man einfach noch nichts. Internet, Radio und Fernsehen schwiegen sie tot, all die Toten, aber geschehen waren sie trotzdem.
Dann 2002, das erste Schreckensereignis. Von der Küstenkordillere zum Atlantik herunter wälzten sich haushohe Schlammlawinen und begruben alles unter sich, Menschen, Tiere, Häuser. Die Stadt Gonaïves mit ihren vorher 105’000 Einwohnern war nur noch ein Schlammfeld. Noch nach Wochen fanden die Hubschrauber Menschen- und Kindergruppen, die sich auf Inseln und Klippen im Meer gerettet und ohne Nahrung ausgeharrt hatten. Dasselbe Trauerspiel wiederholte sich etwa alle zwei Jahre, jedesmal tausende von Toten hinterlassend. Jedes Kind kannte Gonaïves, auf der ganzen Welt.
Die Küstenebene wurde zum Trauma und zum Tränenen-See. Er besteht heute noch, acht Jahre später. Die Hilfswerke der Welt arbeiten noch Tag und Nacht an der Beseitigung der Schäden, zum Beispiel am Bau einer kilometerlangen Brücke über den See, es wird wohl die längste Brücke der Karibik. Hoffentlich die Brücke in eine normale Welt.
Auch der einstige Flughafen braucht wohl nie mehr einen Tower. Die kläglichen Reste würden nicht vermuten lassen, dass hier einst Fluggäste abgefertigt wurden. Besucher, Touristen, Arbeiter, die dem schönen Land Arbeit und Einnahmen brachten.
Gonaïves ist Hauptort des Départements Nord von Haïti, Bischofssitz und Standort einer jetzt neuerbauten Kathedrale, bekannt als „Unabhängigkeitsstadt“, da Jean-Jacques Dessalines hier am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit Haitis ausrief. Während der Militärdiktatur von 1991–1994 war Gonaïves Schauplatz von Plünderungen, Gewalt und Morden durch Militärs und Paramilitärs, bekannt als Zentrum des Widerstandes. Am 5. Februar 2004 wurde die Stadt von der Organisation RARF (Revolutionary Artibonite Resistance Front) übernommen, was den Start für den Aufstand im Jahr 2004 bedeutete.
2002 und 2004 geißelte die Hurrikansaison die Stadt mit Überschwemmungen und Schlammlawinen, welche für den Tod von je gegen 3000 Menschen verantwortlich waren. Praktisch jedes Gebäude wurde durch den Sturm beschädigt, noch viel mehr Menschen wurden obdachlos. Am 1. September schnitt der Hurrikan Hanna Gonaïves vollständig von der Außenwelt ab. Allein in der Stadt gab es über 100 Tote.
Heute gibt es nur noch Arbeit für Hilfs-und Rettungswerke. Denn die Aufräumarbeiten sind bei weitem noch nicht abgeschlossen, die Stadt ist immer noch schwer zugänglich, für Flugzeuge überhaupt tabu. Dafür hat sich die Straße enorm gebessert, einst war an einen Zugang auf dem Landweg gar nicht zu denken. Stunden brauchte man für die Überquerung der Löcher.
Die neue, moderne Betonbrücke, die über den jungen See von Gonaïves helfen sollte, ist immer noch nicht fertig. Neben der Straße stehen immer noch nicht abgeräumte Ruinen von Schlammhäusern, und es gibt immer noch bewohnte Zelte und Notwohnungen, in einem schrecklichen Zustand. Die von den großen Hilfswerken erstellten Nothäuser arbeiten mit Farborientierung und ähneln eher Bienenstöcken. Gonaïves scheint heute eine richtige Stadt, fast in westlichem, modernem Stil, wenigstens wenn man Geschäftshäuser und öffentliche Gebäude vergleicht. Aber die Aufschriften auf Mauern und Toren zeigen, dass es fast ausschließlich Hilfswerke sind, die hier Arbeit bringen, oder sogar Wasser, das immer noch verteilt wird.
Das frühere Gonaïves besteht nicht mehr, es wurde weggeschwemmt von den ungeheuren Schlammmassen, die sich von den Hängen der umliegenden Berge wälzten, die hatten sich verflüssigt. Die Ruinen der zusammengestürzten Wohnhäuser sind noch nicht alle abgeräumt, die Schrecken in den Köpfen noch nicht ausgeheilt. Überlebende Augenzeugen berichten, die Katastrophe sei noch schlimmer gewesen als das Erdbeben von diesem Januar, so hatten sie es erlebt. Tatsächlich hatte Gonaïves wenigstens „Glück“, wenigstens von der diesjährigen Erdbebenkatastrophe verschont geblieben zu sein.
Ich möchte eigentlich Cap Haïtien, zweitgrößte Stadt von Haiti, dem Nachbarstaat der Dominikanischen Republik und bedeutender Atlantikhafen, auf dem Landweg erreichen, wie in früheren Jahren oft praktiziert. An massiven Betonhäusern vorbei geht die Fahrt bergwärts, an Ruinenfeldern und einem beflaggten Voudoutempel vorbei. Dank seiner Lage auf einem Hügel hat er das Inferno überlebt, möglicherweise auch mit tatkräftiger Unterstützung einschlägiger Loa, wie man die Voudougötter nennt.
Im Hintergrund kann man leicht erkennen, welcher Art die umgebenden Steilhänge sind, und wie es ist, wenn die einmal „kommen“. Auch der Grund der zerstörerischen Gewalt lässt sich leicht erkennen, denn soweit das Auge schweift lässt sich an den Steilhängen kein einziger Baum erkennen. Alles was Wurzeln hat wurde verköhlert und verkocht, zu viele Menschen wollen hier essen und überleben. Deshalb konzentrieren sich Hilfswerke auch auf landwirtschaftliche Ausbildung der Bevölkerung, die lernen soll, mittels eigener Quellen zu überleben.
Das Stichtal führt kilometerweit in die Kordillere hinein, Anwohner erzählen uns, wie das unscheinbare Wässerchen damals innert Minuten zur reißenden Sintflut wurde, wie im metertiefen Schlamm Menschenkörper talwärts trieben. Niemand hat sie gezählt, niemand begraben, die Anwohner behaupten, Tote fänden sich noch heute in Schuttmassen und Landschaft.
Die Straße ist in einem unbeschreiblichen Zustand. Es scheint, seit der letzten Katastrophe habe sich niemand mehr um den Unterhalt gekümmert. Mir scheint immerhin, das sei früher eine gute Straße gewesen, intensiv befahren von Bussen und Lastwagen, die einen regen Handelsverkehr zwischen dem Hafen von Cap Haïtien und dem übrigen Land bewältigt hätten. Über große Strecken ist die Straße weggespült, und man muss aufpassen, nicht plötzlich über die unterspülten Ränder einzubrechen und auch unten im Flussbett zu landen.
Plötzlich beginnt dann die Straße zu steigen. Heute wird die Passstraße höchstens noch von Motorrädern und Schützenpanzern verunsichert – aber die sind ja zum Sichern da. Lastwagen und Busse gibt es kaum mehr, die Konkurrenz des See- und des Flughafens ist zu stark. Und die Landfahrt ist zum größeren Abenteuer geworden, aber landschaftlich immer noch ein Genuss.