Maurice Etienne wohnt in Milot, am Fuße der Zitadelle. Nicht ohne Stolz erklärt er uns Stammbaum und Geschichte seiner Familie, die schon zu Königszeiten hier wohnte, Henri Christophe zudiente und ihm das Leben erleichterte, solange das möglich war. Die damalige Straße hinüber an den Golf der Prinzenstadt führte durchs Tal, am Palast des Königs vorbei. Die Familie Etienne hatte schon damals Adjutanten-Aufgaben und wurde vom König für diese treuen Dienste mit Landgeschenken belohnt. Etliches Buschland der umliegenden Berge gehört deshalb heute noch den Etiennes, die stolz sind auf diese Dienste.
Der König hatte sich zwar bald umgebracht, wie bekannt mit reinem Silber, aber die Vorfahren von Maurice ließen sich nicht lumpen und dienten dem Besitztum weiter, auch wenn es keinen Besitzer mehr gab. So erzählt er seine wirklich erlebten Geschichten von den königstreuen Großeltern, und es liegt nahe, dass er selbst zum Gralshüter und Direktor des „Centre Culturel“ avancierte, das auf die Familie zugeschnitten war.
Vor vielen Jahren hatte ich Gelegenheit, den interessanten Mann mit Kollegen vom Deutschen Fernsehen kennen zu lernen, die mir seine Adresse wieder ausgruben, und die ich auf diesem Wege verdanke und meine und Maurice’s herzliche Grüße ausrichte – einmal umgekehrt als dies sonst beim Fernsehen üblich ist.
Die Adresse ist für Kultur-interessierte Milot-Besucher empfehlenswert. Nicht nur das Ambiente seiner königlichen Liegenschaft, seiner engagierten Schilderungen der Vergangenheit und seines botanischen Gartens, nein auch die kulinarisch-karibischen Leckereien mit vorherigem Zeremoniell des Händewaschens im Wasser mit Blüten und Orangenblättern und selbst die anschließende Einladung zum Übernachten sind durchaus einen Versuch wert.
Vor uns wurde ein Experte der USA verabschiedet, der haitiweit geeignete Leute besuchte um zu berichten, ob eine allfällige Annektion des „Landes“ durch jene Regierung möglich und wünschbar wäre, und am nächsten Tag war der Besuch einer UNESCO-Kommission aus Paris vorgesehen. Schon übermorgen steht eine Stippvisite der haitianischen Rumpfregierung auf dem Plan, es werden immerhin noch einige Minister kommen die überlebt haben. Trotz der erlauchten Gäste ist die Gastfreundschaft der Familie Etienne auch Normalsterblichen gegenüber enorm und die Erwartung einer freiwilligen Entschädigung bescheiden. Bei unserem letzten Besuch wurden uns auf einer Bühne sogar alte Volkstänze und musikalische Darbietungen einiger „Royale Dahomey“ vorgeführt.
Das war auch der eigentliche Grund meines erneuten Besuches bei Maurice. Ich hatte mich knapp der Besonderheit der Royale Dahomey erinnert, eines Stammes aus dem afrikanischen Benin, der zur Zeit des sagenumwobenen, tragikomischen Negerkönigs zur Aussiedlung nach den USA in die dortige Sklaverei bestimmt war. Henry Christophe verhinderte den Transport nach den USA und leitete die Gruppe in den Hafen von Cap Haïtien um, solche Husarenstreiche waren damals durchaus üblich und können heute je nach Laune als Piraterie oder als Sklavenbefreiung und damit als humanitäre Aktion interpretiert werden. Der Negerkönig offerierte der Gruppe zwei Möglichkeiten als Alternative: sie konnten sich zwischen der Sklaverei in Haiti, die wohl in einer Kaffeeplantage geendet hätte, oder der Fronarbeit für Henry Christophe, vor allem den Bau der geplanten Monsterfestung Zitadelle entscheiden, im letzteren Fall würden sie frei.
Versteht sich dass die fortan „Royale Dahomey“ genannte Gruppe sich für die Freiheit und den König entschied, der sich ja wenig später auch das Leben nahm. Die Schwarzen aus Benin zogen sich in die Berge zurück und können in Anspruch nehmen, nie Sklaven gewesen zu sein. Sie haben bis heute ihre eigenen Tänze, Sitten, Musik bewahrt und werden von Zeit zu Zeit eben von Maurice Etienne vorgeführt. Ihre Musik wird von Lambi-Muschel-Lauten geprägt, und auch dem örtlichen Patois haben sie durchaus einen beninischen Stempel aufgedrückt. Was an ihren Tänzen anders ist als an denen der Restbevölkerung, kann ich als typischer Laie nicht, oder noch nicht schildern.
Der König jedenfalls ging, er hatte sich mit der eigenen Pistole und einer silbernen Kugel von all den Problemen befreit. Er hatte mit seiner italienischen Frau im Sans-Souci-Palast gelebt, sie hat ihn auf seinen Wunsch in seiner noch fertiggestellten Riesenfestung Zitadelle an einem geheimen Ort beerdigt, einem Ort, der bis heute unentdeckt blieb und wohl für immer geheim bleiben wird. Danach zerstörte ein Jahrtausend-Erdbeben, ähnlich dem heutigen aus der Prinzenstadt, den Sans-Souci-Palast mit allen Kasernen und wohl ebenfalls Millionen einfacher Wohnhäuser wie heute, die Königin reiste zurück nach Italien, und auch alles andere verschwand und machte der Zukunft Platz. König Henry musste das nicht mehr erleben.
Die „Royale Dahomey“ jedoch zogen sich in die Berge zurück und retteten ihre Kultur, Lambi- und Tamtam-Musik, Tänze, Sprache und Gepflogenheiten bis in die heutige Moderne, ohne je Sklaven gewesen zu sein und sich freigekämpft haben zu müssen. Sie waren immer frei. Und wenn Marice Etienne nicht wäre, wüsste man heute noch nichts von ihrer geheimen Existent.