Die nördliche Halbinsel Haitis wird von einer wilden, erosionszerfressenen Küstenkordillere durchzogen, die sich auch eines fernen Tages, wie ihre Südschwester Tiburon, einmal teilen wird, das wird noch viele Erdbeben und Menschenleben kosten. Die nördliche Hauptstadt des Landes ist auf dem Luft-, See- oder Landweg erreichbar, diesmal versuchte ich es wieder mal auf dem Landweg. Bis zur Katastrophenstadt Gonaïves haben Sie die Reiseschilderung wohl schon gelesen und gesehen, dass sich dabei der Straßenzustand ganz gewaltig gebessert hat, sicher dank der enormen Beiträge von Hilfswerken.
Nach Gonaïves wird es anders; die lange Stichstraße, die zuletzt zum Pass von Chatard führt, war früher einwandfrei und ist heute völlig verwahrlost, man kann ruhig sagen am Zerfallen, voll gähnender Löcher und Spalten. Es empfiehlt sich, an der Reise zwei Tage zu machen und in einem der Hotels von Gonaïves zu nächtigen. Vom landschaftlichen Standpunkt aus ist die Fahrt jedoch lohnenswert, auch wenn die einstigen Pracht-Urwälder alle verkohlt sind. Die tropische Natur ist so stark, dass sie in kürzester Zeit für eine Sekundärvegetation gesorgt hat, die durchaus auch ihre Reize bietet.
Oben auf der Passhöhe bieten Marktfrauen („Madame Sahras“) in Zelten und Hütten ihre Waren feil, und eine Abzweigung führt nach dem Bergdorf Marmelade, der Heimat des Präsidenten, der dort seine Bambusmöbel produzierte und damit vorlebte, was er unter „Production nationale“ versteht. Heimatwerk ist ja auch die einzige Lösung für einen Agrarstaat, der selbst Erdnussbutter ( „Mamba“ ), Bienenhonig und wundervolle Limonaden aus den USA importiert, obschon hier von allem viel bessere Produkte angeboten werden und „Limonade“ der Dorfname eines östlicher gelegenen Dorfes ist. Das alles ist ja auch für „Marmelade“ zutreffend…
So geht es einige Stunden bergab, vorwärts, an weiteren Löchern, Ständerhäusern und Brückenruinen vorbei. In Limbé, wo um die 18.Jahrhundertwende insgeheim die schwarzen Sklaven zusammentraten und gegen Frankreich mobil machten, der haitianischen „Rütliwiese“ entsprechend, wurde durchaus Geschichte geschrieben, war es doch hier wo sich die Geister zusammenfanden und sich in den Jahren nach 1800 den reichen und gutbewaffneten Franzosen erfolgreich entgegensetzten, wo auch Lieder und Musik geschrieben wurde, wo kunstvolle Malereien entstanden und wo sich die Négritude, neuer Geist und Kulturbewusstsein zum schwarzen Kristall formierten und einen Magnet bildeten für Gleichdenker selbst aus dem fernen Ausland.
Man entdeckte hier auch die eigenen, kulturellen Wurzeln, die auf die Zeit lang vor den Afrikanern zurückgehen, auf die Indianer. Hier in Limbé haben ihre Nachkommen ein prähistorisches Museum, ein Indianer-Museum eingerichtet. In ansprechenden, sauberen Präsentationen werden Fundstücke aus der Umgebung präsentiert und erläutert, die auf jene Urzeit zurückgehen, darunter Topfscherben so gut wie Steinwerkzeuge und -Waffen, Schmuckstücke und andere Objekte. In meinen Geschichten habe ich immer wieder von den Indianerkulturen berichtet, so in Kassav war ihr täglich Brot über die zahlreichen Maniokmühlen, die ich alle auf dieser Strecke aufgenommen habe.
Am 7. Mai 1842 wurde die Stadt durch ein sehr starkes Erdbeben zerstört, dabei sollen 10.000 Menschen umgekommen sein. Sans-Souci-Milot zeigt den damals zusammengestürzten Palast, wo König Henry Christoph mit seiner Gemahlin wohnte. Aus Angst vor den Rückeroberungsgelüsten Napoleons baute er anschließend die Zitadelle. Beim diesjährigen Riesenbeben ist Cap Haïtien mit einem blauen Auge davongekommen.
Cap Haïtien ist die zweitgrößte Stadt des Landes und liegt in einer tiefen Bucht, die einen natürlichen Hafen bildet. Schon seit und vor Kolumbus landeten hier Atlantikschiffe und brachten ihre Waren über das Meer. Die Stadt mit 112’000 Einwohnern wurde 1670 gegründet und war ein Jahrhundert lang Hauptstadt der französischen Kolonie Haiti. Heute ist sie wirtschaftliches Zentrum der Region und bedeutender Touristenort sowie Sitz eines Erzbischofs. Der Nationalheld Toussaint L’Ouverture wurde hier geboren.
Das Muster der Stadt wird durch die langgezogenen, hölzernen Balkonhäuser geprägt. Oben befinden sich die Wohnungen, darunter die Warenlager. Die enge Bauweise ermöglicht eine optimale Schattennutzung.
Haiti, der Nachbarstaat der Dominikanischen Republik, erkämpfte 1804 die Unabhängigkeit und war nach den USA der zweite Staat des amerikanischen Kontinents, dem dies durch eine Revolution gelang. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ waren die importierten Werte der 1789 ausbrechenden Französischen Revolution. Die Mulatten probten als erste den Aufstand im Namen der Menschenrechte, ohne allerdings für die Freiheit ihrer eigenen Sklaven einzutreten. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und die Anführer hingerichtet. Der Negerkönig Henri Christophe wurde der Nationalheld Haitis.
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