Heute fuhren wir, mein Schweizer Freund Frowin, mein Boy Alson und ich, gemütlich über den Mòn Kabwi nach Mirebalais. „Mòn“nennen die Kreolen einen Steilhang oder Berg, „Kabwi“ eine Ziege. Der Mòn Kabwi war dereinst eine gefürchtete Todesstrecke, berüchtigt durch katastrophale Unfälle, die sehr viele Menschenleben gekostet hatten. Heute ist er eine prachtvolle, moderne Autostraße, die immer wieder mit neuen Fern- und Tiefblicken überrascht, zum Beispiel hinunter auf den 170 Quadratkilometer großen, 29 km langen Azüey-See und Nachbarseen aus dem großen Graben.
Es lebten hier einst über 100 Arten von Wasservögeln, auch Flamingos und 450 Krokodile, bis zu 7 m Länge und in 4 Arten. Aus der Nähe scheint der See tot, trostlos und die Berge rundum ratzekahl. Die Tiere verstecken sich wohlweislich. Krokodile zu sehen gibt aber im benachbarten Enriquillo-See jenseits der dominikanischen Grenze. Man sagt in Haiti, die Dominikaner hätten die Krokodile des Azüey-Sees gestohlen und in ihr Land entführt, die Dominikaner entgegnen das stimme, sie hätten sie gestohlen um sie zu schützen, denn in Haiti würden diese ja doch nur getötet und bei ihnen ziehe das Touristen an.
Also – wir waren am Mòn Kabwi unterwegs nach Mirebalais und von hier aus schaut der Azüey-See attraktiv und blau aus. Ich wollte am nächsten Tag den „Mòn de La Vigie“, den letzten Vulkan Haitis, aufsuchen und meinen schon bestehenden Artikel mit einem Photo ergänzen. Aber noch vor Mirebalais sah ich eine Schlange, stieg aus und fotografierte sie: es war eine prachtvolle, junge Boa-Riesenschlange, totgeschlagen wie alles was kreucht und fleucht. Riesenschlangen sind scheu, schön und schützenswert. Sie greifen nicht an, sind ungiftig und äußerst nützlich, befreien sie die Menschen doch von den fressgierigen Ratten. In Afrika hatte ich erlebt, dass sie in vielen Hütten wie Haustiere gehalten wurden, im Wissen, dass die Schlangen eine Rattenplage verhinderten. Riesenschlangen sind intelligent und nie giftig; sie töten ihre Beutetiere durch Umschlingen bis sie ersticken. Sie haben kleine Hinterbeinchen und sind wie alle Schlangen gehörlos. Sie sind die einzigen Schlangen, die sogar Menschen kennen.
In Haiti ist eben alles anders. Man glaubt hier, Schlangen seien giftig – es gibt auf Hispaniola überhaupt keine einzige Giftschlange! – und offensiv. Man glaubt selbst, sie könnten einen Menschen verfolgen. Dasselbe von den meisten Wildtierarten, man glaubt, alles sei böse. Böse, schädlich und offensiv muss man eben totschlagen, so glauben die Ungebildeten. Und das sind fast alle, nicht nur in Haiti… So ging es auch der kleinen Boa von heute. Schlangen und andere Wildtiere haben in diesem Land, wie auch kleine Kinder und sogar viele Erwachsene, keine Überlebenschance.
Bis 1492 war Haiti die reichste Insel der Karibik, ausgestattet mit Natur- und Bodenschätzen im Überfluss. Sie war vollständig mit tropischen Regenwäldern bedeckt und galt bei den Wissenschaftlern als „Biodiversitätsfabrik“ wegen ihrer überaus vielfältigen Lebensräume und Ökosysteme. Es gab 5’000 Gefäßpflanzen arten, 300 Orchideen arten, 2000 Tierarten, 215 Vogelarten, 65 Amphibien- und Reptilien arten und 25 m hohe Urwaldriesen aus tropischem Edelholz. Heute sind noch ein Prozent der Landfläche bewaldet, und pro Jahr nimmt die restliche Waldfläche um 3.5% ab. Der Raubbau an Haitis Wäldern begann schon nach der Entdeckung, da die Kolonisatoren Anbau- und Bauland wie auch Bauholz brauchten. Nach der Vertreibung der Franzosen 1791 bis 1804 nahm der Kahlschlag zu, noch heute werden 84% des Energiebedarfs mit Holzkohle gedeckt. Jedes Jahr werden 50 Millionen Bäume gefällt, um 1,6 Mio. Kubikmeter Holzkohle zu produzieren. Für einen Kubikmeter Holzkohle braucht es im Durchschnitt 31 Bäume. Haiti bedeutet „Gebirgiges Land“ in der Sprache der Arawak, der Urindianer Haitis. Der größte Teil dieses Landes liegt in Steillagen und ist vom Wald entblößt. Wenn der Wald fehlt, fließt das Wasser zu schnell ab, kann nicht in den Boden versickern, erodiert diesen und führt zu den bekannten Katastrophen im Land. 33% von Haitis Land sind stark erodiert. Das Erosionsproblem ist das größte Problem in diesem Land.
Durch die Verheerung der Lebensräume wird die Artenvielfalt zerstört. Die Tiere finden kaum mehr Verstecke. Sie sind der Willkür ungezügelter Barbarei preisgegeben. Es gibt sehr wohl eine hochgebildete, edelmütige Oberschicht, bei der ethisches Verhalten so selbstverständlich ist wie bei uns. Doch bei der Masse der Armen ist Respekt vor dem Leben unbekannt, da wird aus Prinzip alles totgeschlagen was sich bewegt – nicht nur aus Nahrungsnot, nein aus Unwissenheit, Dummheit und sogar als Spiel, schon bei den Kindern. Wo Hunger und Analphabetismus normal sind, da scheinen Gefühle für andere Kreaturen abwegig zu sein. Alles was sprießt und lebt wird ausgebeutet, verwertet oder umgebracht. Tiere sind Ware, Hunde füttern ist unbekannt, Kühe und Schweine suchen sich ihr Futter in den Abfallhalden, Ziegen und Hühner werden dutzendweise an gebrochenen Beinen rundum an Lastwagen aufgehängt um frisch zu bleiben. Von Regierung und Fernsehen ist nichts zu erwarten, die haben andere Prioritäten. Tierschutz ist unbekannt, das Wort oder ein Gesetz gibt es nicht. Meines Erachtens könnte da wenigstens die Kirche eine Rolle spielen, auch sie hat da versagt.
Ich finde Armeen eigentlich etwas Teuflisches. Aber ausgerechnet die amerikanische Armee war die einzige Institution, die ich in diesem Land bei tierschützerischem Einsatz beobachten konnte: 1994 fand die amerikanische Invasion in Haiti zur Vertreibung des Putschgenerals Raoul Cédras statt. Die Armee tat eigentlich recht viel Gutes, bevor sie sich wieder zurückzog, vor allem auch – Halten Sie sich jetzt fest ! – für den Tierschutz. Die bisher allgemein übliche Tierquälerei, Ziegen an gebrochenen Beinen zu hunderten rundum an Lastwagen aufzuhängen und so die „Ware“ unter unbeschreiblichem Geschrei auf die Märkte zu bringen, wurde abgestellt und verboten. Das Verbot wurde amerikanisch-militärisch durchgesetzt. Diesmal: alle Achtung den Amerikanern ! Leider kehren diese grausamen Barbareien heute wieder ein und bleiben ungestraft, die UNO-Truppen beschränken sich auf ihre eigenen Prioritäten.
Herz- und gefühllos scheint in der Kultur völlig Ungebildeter normal zu sein. Und doch: innerhalb jeder Sippe oder Familie gilt das Gegenteil: das Gefühlsleben ist rührig, auch wenn ich daran denke, dass hier alles Farbe und Musik ist, fast jeder ist ein Künstler. Und dass man bei Freundschaft in diese Sippen und Familien aufgenommen wird und da plötzlich erfährt, wie diese Menschen alles geben ohne etwas zu erwarten – wenn man selber zum Objekt ihrer Anteilnehme wird.
Auch was 1994 auf der Insel geschah, ist unglaublich und zeugt eher von einer guten Kenntnis der hiesigen Kultur. Die Amerikaner haben es geschafft, unter Ausnutzung der landläufigen Einstellung zum Geld die Invasion ohne Blutvergießen über die Bühne zu bringen: die Soldaten haben ihre Waffen für ein paar Dollar verkauft, der General kassierte eine Million für das Verlassen der Insel, und die Armee wurde aufgelöst. Ohne einen Tropfen Blutvergießen! Obschon ich kein Ami-Freund bin, hier nochmals: alle Achtung den Amerikanern! Und der Tierschutz – eine Bildungsangelegenheit ?
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