Ulli, der Einsiedler aus dem Himalaya, beginnt mir langsam aber sicher die Show zu stehlen. Segelt er doch von einem Abenteuer ins andere, oft täglich mehrmals. Ich muss wohl oder übel immer mehr über seine als über meine Erlebnisse erzählen, denn die gehen ans Lebende. Oder ans Trockene, oder an das was noch nicht abgebrannt ist.
Solche Sonderlinge und Eremiten findet man nur noch in unmöglichen Gegenden, wie dem Himalaya oder in Haiti, dem Nachbarstaat der Dominikanischen Republik, weil es ihnen andernorts zu langweilig ist. Oder im tiefsten Indien, weil man da esoterisch geläutert wird und zwischen Transzendenten, alten Philanthropen und tibetischen Mönchen Weisheit auswählen kann. Doch, schließlich ist es in Haiti NOCH interessanter geworden, NOCH gefährlicher und die Menschen dort sind NOCH ärmer.
Ich hab ihn, was wunderts, in den dominikanischen Mangroven aufgelesen, wo er überlebt hat, unter freiem Himmel, am weiten herrlichen Meer, lebend von rohen Krabben und allem, was die Natur hier gratis auftischt. Überlebend wie einer der Ur-Indianer.
Er hat mir erzählt von seinen vergangenen Abenteuern und den künftig erwarteten, von seinen Gesprächen mit Yetis, Delfinen und anderen Wesen und Weisen, und von seinem leider allzu früh verstorbenen Vater, den er in Mahatma Gandhi sah. Mich bezeichnete er zuweilen als Ersatzvater, also käm ich zur Ehre, ein Bruder Gandhis zu sein. Bei mir lernte er auch Melissa kennen, die sich um mich kümmert, seit 10 Jahren. Für ihn wurde die sogleich zur Schwester Marie Theresa von Haiti. Als Melissa am Sterben lag, weil so viele Leichen Typhus verstreuten, ernannte er schon eine Nachfolgerin, meine Nachbarin Mama Marie oder Schwester Marie Theresa II. Zum Glück kam es aber nicht zum Schlimmsten, die Gebete der guten Menschen kamen an. Gott sei’s gedankt!
Schließlich hielt es Mystal, der Hausherr nicht mehr aus mit ihm, und der Eremit auf dem Dach (nicht Dach der Welt,, sondern der Bergburg) musste in der Folge ausziehen. Er bringe den Unfrieden. Das ist nicht ganz nach Mahatma Gandhi, aber leicht möglich, bei einem Sonderling aus dem Himalaya. Die Insulaner hier sind eben traditionell-afrikanisch getrimmt, das ist so wie etwa afrikanisch minus 200 Jahre. Da war schon mancher mit Anpassung überfordert.
Auch auf der deutschen Botschaft sind ausgewanderte Sonderlinge nicht so gern gesehen ( Ulli hat einen deutschen Pass ). So hielt er sich eher an die indische, die scheinen mehr Zeit zu haben. Auch Humor und Geduld, die braucht es ebenso. Bei Hilfswerken, bei denen er sich einnisten konnte, bei Nachbarn, und Anderen, ging es ähnlich, jedenfalls kaum besser. Die alle wollen in ungestörter Ruhe leben, manchmal auch wirken und werken. Gestört und bemeckert bewirken sie nichts.
Einmal verschwand er bergabwärts, bei ihm wusste man niemals wohin. Er habe mit der UNICEF diskutiert, und die möchten ihn wieder treffen. Kaum aus dem Flughafenportal ausgetreten, hätte ihn eine Bande junger Krimineller angegriffen, wie schon im dominikanischen Samana, und zu berauben versucht. Sie wollten ihn in einen Graben mit einem pechartigen Brei manövrieren und bewarfen ihn mit Pflastersteinen, da er sich wie ein James Bond zur Wehr setzte, was sie nicht gewohnt waren. Schließlich zogen es beide Teile vor, zu verschwinden, was blitzschnell geschah.
Ulli wollte nach Léogâne und brachte es fertig, einen entsprechenden Camion zu finden. Unterwegs begann es so stark zu schütten, wie es nur in Haiti schütten kann. Die Brücke über die Momance war weg oder mindestens unpassierbar, der Stau auf der N2 viele Kilometer lang. Wendende, einen Umweg oder anderen Flussübergang Suchende und Pannenfahrzeuge taten das Übrige, das Chaos war so bodenlos wie der Schlamm auf der Straße. Ulli stieg aus und wollte zu Fuß einen Ausweg suchen, liess aber seinen Rucksack im steckengebliebenen Fahrzeug zurück und sein gesamtes Gepäck, für immer.
Er verlor das Fahrzeug aus den Augen und sich selbst im Schlamm und Schlamassel und kämpfte sich per Autostopp zurück. Jetzt hatte auch er keinen Fotoapparat und auch sonst nichts mehr, wie ich seinerzeit in Paris, außer Leben und Pass, ich hatte nicht einmal den gehabt. Den hatte er sich vorsichtshalber ums Bein gebunden, ich musste zuerst klug werden, er war es schon (Unter der Gürtellinie, Das letzte Versteck).
Gastgeber mit einem anderen Wagen brachten ihn schließlich zurück, ausgerechnet in die Cité Soleil. Er wusste nicht, dass das ein Gangsterquartier von Weltruf ist, das aller Rekorde spottete. Aber er hatte Glück, schon wieder. Eine „City-Soleil-Gang“ ernährte ihn, gab ihm das einzige Bett und er durfte mit 15 anderen Personen zusammen im gleichen Raum nächtigen, im gefürchtetsten Gangsterquartier der Welt. Über Gastfreundschaft wissen Sie ja seit ein paar Tagen Bescheid. Trotz Einspruch des Bandenchefs, der zuerst auf „Liquidation“ plädierte. In einem Quartier, in das sich noch jüngst nicht einmal Polizisten und Blauhelme mit Flammenwerfern wagten, denn Dutzende von ihnen wurden hier erdrosselt oder erstochen.
Ulli der Sonderling musste sich höchstens wehren, als eine Ganovenbraut heimlich zu ihm ins Bett schlüpfen wollte und sich an seinem Allerheiligsten zu schaffen machte, das war auch ihm zu viel. Das hätte sogar gefährlich enden können, denn auch die abgewiesene Beinahe-Braut begann empfindlich zu reagieren. Ansonsten waren seine Cité Soleil-Erlebnisse nur positiv, und nach einem Frühstück wollten ihm die Gangster-Gastgeber sogar noch ein paar Münzen mitgeben, damit er den Tap-Tap nach Hause finanzieren könne. Doch darauf verzichtete er höflich.
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