Soviel wie hier, quantitativ und qualitativ, erlebt man nur noch jenseits der Erde, stell ich mir vor (ich war noch nie dort). In der ISS, hinter dem Mond oder im Kuckucksland. Aber das alles ist nicht wirklich, lebt nicht. Soviel Leben jedoch erlebt man nur in Haiti, das ist gewiss. Und da raten mir Freunde und Reporter noch, doch in der Schweiz zu bleiben. Dort kann man sich zwar einschlägige Erlebnisse auch anlesen, ansehen, ankaufen, aber hier kommen sie wirklich an, kommen von selbst, wie gebratene Tauben im Schlaraffenland, gratis, und im Übermaß. Das wissen vor allem die unter Ihnen, die nicht mehr nachkommen mit Lesen, aber alles lesen möchten, und das nicht leisten können. Einer hat reklamiert, ich sei zu produktiv, er könne nicht mehr alles lesen, wie er wollte. Pardon !
Ich leiste es auch nicht mehr, so vieles niederzuschreiben, wie ich möchte. Besonders mit den Stromproblemen, Verbindungs-, Panel- und Délco-Problemen ( so nennt man hier Stromaggregate, Generatoren ), bis nur noch Heft und Bleistift übrig bleiben, bald sind es wohl Steintafeln und Nägel zum Kratzen.
Und schon wieder fangen Probleme an, Gichtprobleme. Ich bin schon fast bei der Ohnmacht angelangt, aber andere sind in Alkohol oder Ähnlichem versumpft, die Tools stoßen an ihre Grenzen. Oder sollte man statt dem englischen Fremdwort sagen, „Gabeln“? Gabeln des Teufels ? Erdbeben ? Wirbelstürme ? Die Gicht ? Sind sie das, die Gabeln des Teufels? Das ist der einzige Kerl, der dir innerhalb, auf, und außerhalb der Erde begegnet, mit seinem Gabelzeugs, so sicher wie der Tod. Wir Erdenbürger sind eben moderner und sagen dem „Tools“.
Dann kommt das Brüten in der Nacht, da steigen einem die schönsten Geschichten in den Kopf, und weil man sie nicht aufschreiben kann, sind die nach dem Erwachen wieder weg. Die schönsten Geschichten sind die, die man vergessen hat, schlussendlich.
Vor lauter Gabeln der Teufel vergisst man. die Stimmen der Engel zu hören. Sie alle sind hier am Singen. Ich kann das kaum mehr. Melissa ist am Beten, Mystal am Schräubeln, am Hantieren an der Technik, und alles für mich. Ich darf und will niemand stören. Im Nebenraum beginnt es zu tirilieren. Ein junger Mann, mit guter Stimme, könnte am Radio auftreten. Gepflegt und scheinbar ausgebildet. Dann rezitiert er ein Gebet, bühnenreif, spannend. Es folgt die glockenreine Flötenstimme einer jungen Frau, ein Kinderchor, ganz Haiti ist ein Konzertsaal. Und wieder einige Männer, fast wild und unkoordiniert, ein Ohrenschmaus, ein unvorstellbarer Genuss, Klänge des Himmels. Ein Himmel auf der Erde, hier in Haiti.
Ich habe behauptet, alle Haitianer seien Künstler. Maler, Schnitzer, Bildhauer, Musiker, Schauspieler, Märchenerzähler, und so fort. Die Sänger sind Tonkünstler, Naturtalente. Sie nehmen es mit jedem Alpenjodler auf. Sie akzentuieren und modulieren ihre urafrikanischen Laute oder Naturtöne meisterhaft, mit Zwischenschreien vom brüsken Staccato bis zum zarten Portato, und mit unglaublichem Einfallsreichtum. Wie tropische Vögel. Ob wilde, abgerissene, ausgeschriene, gutturale Voudou-Laute oder weiche christliche Hymnen und Choräle, stets ist die unverkennbar afrikanische Klangwelt dabei. Das alles ist ungemein spannend, und allein deshalb könnte ich meine Wahlheimat nie aufgeben.
So geht es den ganzen Tag über. Haiti, der Nachbarstaat der Dominikanischen Republik klingt. Und das Unglaublichste: nichts ist touristisch gestellt, nichts museal verstaubt, alles ist echt, lebend und spontan.
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