Dass Analphabeten in „Entwicklungsländern“ allgemein und in Haiti besonders nicht mit Buchstaben, aber umso besser mit Worten und Geschichten, mit zu gestaltenden Stoffen, mit Farben und mit Klängen umzugehen wissen, habe ich bereits erzählt. Als Dichter und Schriftsteller, als Maler und Töpfer, als Musiker und Sänger sind die ganz großen Künstler. Spätestens unterwegs von der Hauptstadt nach Pétion-Ville hinauf fallen links und rechts der Straße auch Scharen von Stein-, Metall- und Holzplastiken auf. In den Souvenir-Läden von Pétion-Ville und im Flughafen gefallen denn auch die polierten Holzplastiken, die kleinen Kunstwerke der Schnitzkunst.
Die sind zwar „extrinsisch“ motiviert, aber es ist doch gut, dass ein paar arme Teufel so ein paar Batzen verdienen können.Rein „intrinsisch“, aus innerem Antrieb, erfolgt die Holzkunst an Bäumen. Die macht sogar vor lebenden nicht halt. Diese hier, die waren dem Tod geweiht. Denn sie standen mitten auf der Straße in Pétion-Ville und bildeten ein enormes Verkehrshindernis, in der Stadt, die sich doch dem unerbittlichen Kampf gegen die Autostaus verschrieben hat. Also durften sich daran HobbyschnitzerInnen à gogo austoben.
Dass auch lebende Bäume beschnitzelt werden, zeugt zwar von der überkochenden Energie, aber nicht von allzu viel Natur- und Feingefühl und wird hier als Holkunst, würde drüben als Frevel bezeichnet. Mit dem Unterschied, dass die Baumschänder dort Herzsymbole ( die in Wirklichkeit wohl eher einen Po darstellen ), Zahlen, sinnlose Gekritzel oder gar ihre Namen einritzen, sodass sie auch noch als Freveltölpel verewigt sind. Stattdessen entstehen hier Werke der Volkskunst an lebenden Bäumen, doch hier wird es wohl auch Baumzombies geben!
Petit-Goâve wurde 1663 von französischen Siedlern gegründet, liegt 70 km nördlich von Port-au-Prince und soll die älteste Stadt des Landes sein. Die Hunderttausend-Seelen-Feste war viele Jahre lang fast unzugänglich, da ein Hurrikan den Viadukteparaturgeld über einen tiefen Canyon fortgerissen hatte und niemand das Flickgeld zusammenbrachte, bis die Blauhelme kamen.
Von Petit-Goâve aus verbreiteten sich immer wieder Aufstandsbewegungen gegen die jeweiligen Machthaber. In den Gemäuern der alten Festung findet man Waffen- und Seefahrtsrelikte aus der damaligen Zeit, die Gebäude selbst wurden zu einer romantischen Gaststätte umfunktioniert, in der Computerfans nicht einmal auf WIFI verzichten müssen. Als ich dort war und diese Geschichte tippte, war ich allerdings der einzige Gast, und das ist in den Hotels der Südhalbinsel der Normalzustand.
Wenige Meter außerhalb der Mauern liegt die Küste, auch die ist menschenleer. Das Wasser ist sauber, aber der Boden für mich zu steinig um zu baden. So schaue ich mich zu Lande etwas um. Hier liegen wie in einem Museum alte Einbäume, hier die einzigen Boote – neuere Modelle oder gar Motoren sind noch nicht eingekehrt. Die Baumstämme werden durch Feuer ausgehöhlt und mit Meißeln nachbearbeitet, oft sogar mitsamt einer Sitzbank, alles aus einem Stück. Die Kanus werden mit einem einzigen Paddel oder mittels einem Segel fortbewegt, ich habe auch schon Einbäume für mehrere Personen und Einbaum-Taxis beobachtet.
Hier in Petit-Goâve, haben wir bei einem Halt rein zufällig dieses Geschichtsbuch entdeckt, ein Geschichtenbuch aus Holz. Zuerst ist mir nichts aufgefallen, aber wieder einmal hat mir meine „Indianerin“ die Augen geöffnet und viertelstundenlang Geschichten erzählt, die ich nie geglaubt hätte. Die mich bewogen, sogleich auch eine Geschichte zu schreiben, meinen Lesern das ebenfalls mitzuteilen. Der betreffende Baum ist zwar gefällt, ein Strunk blieb übrig, aber er lebt noch.
Fast wie das Land selbst. Unten links sind grüne Blättchen zu sehen, die vom selben Baum stammen – tatsächlich er lebt!!! Vielleicht, in hundert oder tausend Jahren, wird er wieder stolz dastehen, und die Geschichten der Holzbildhauer werden wohl vernarbt und vergessen sein. Wie richtige Geschichte.
Die Holzbildhauer von Petit-Goâve aber, die haben hier etwas geleistet. Ich weiß nicht wann, vielleicht vor Jahrhunderten ein Mittel im Kampf um die Sklavenbefreiung. Sie schnitzten ihre Geschichte auf einen Baum. Zuerst fällt – mir wenigstens – nichts auf, ein Strunk wie viele andere.
Und ich muss zugeben, ich habe den Baum „durch geknipst“ und anschließend einige maßgeblichen Teile auf dem Computer verstärkt, damit man sie besser sieht. Es soll ja meinen Lesern nicht gehen wie mir, der ich zuerst eine Indianerin brauchte, um mir die Augen zu öffnen.
Vorerst die „Totale“, der ganze Baumstrunk. Die meisten erkennen nichts, auf den ersten Blick. Das Buch mit sieben Siegeln liegt offen, die ganze Geschichte nach der Überlieferung der Eingeborenen wird da geschildert, auf herrliche, analphabetische Weise. Ein Bilderbogen in Holz. Sicher könnte ein Fachmann, ein Volkskundler, ein Historiker oder ein Ethnologe noch viel mehr entdecken. Aber mein Anliegen war ja schon in der Uni, und blieb es bis heute, nicht Perfektion zu erreichen, sondern etwas zu erleben, Gefühle „raus zu lassen“. Und das lässt sich nirgends so gut wie in Haiti.
Und jetzt einige Einzelheiten, „Gros-Plans“ nannte man das beim Film. Wiederum subjektiv ausgewählt, ich muss ja keine Schulnoten erreichen. Die lange rechtslastige Wurzel ist umgestaltet zu einem Sklaven, der auf dem Rücken liegend ausgestreckt auf der Massen-Pritsche eines Sklaven-Schiffs angekettet ist. Man beachte die schweren Ketten an Hand- und Fußgelenken. Auf diese bestialische Weise wurden im 17. und 18. Jahrhundert jährlich 7-8 Millionen Sklaven nach Mittelamerika und der Karibik verschifft. Sie waren, mit Brandmalen gekennzeichnet, auf eng übereinanderliegenden Zwischendecks auf Massen-Pritschen zu hunderten angekettet, und nur die Widerstandsfähigsten überlebten den wochenlangen Transport. Unter den Füssen ist deutlich erkennbar das Transportziel eingeschnitzt, in Form einer Karte von Haiti.
Die nördliche und die südliche Halbinsel Haitis, in der Mitte der Golf mit der Insel La Gonâve und am Ende das schreckliche Ziel, die Hauptstadt Port-au-Prince. Hier hatten die Überlebenden die Chance, das Todesschiff zu verlassen und vielleicht nochmals davonzukommen, wenigstens mit dem Leben.
Nochmals wurden die Ärmsten an ellenlangen Stangen hintereinander angekettet und mussten so zum Sklavenmarkt marschieren. Hier wurden sie in endlosen Reihen feilgestellt, ihre Muskeln wurden von den Interessenten betastet, und die Gekauften führte man zu den Plantagen und anderen künftigen Schinderstätten. In den Jahren nach 1800 gelang den Sklaven ein blutiger Aufstand, die Selbstbefreiung und die Ausrufung Haitis als „Erster Freier Negerstaat“.
Die stillen Meister der harten Bürde schnitzten all dies ins Holz. Sie sind aus gutem Holz geschnitzt, auch wenn es einige Radaubrüder gibt. Aber wo gibt es die nicht? Nirgends in der Welt hatten Menschen so viel Grund zu revoltieren, auch wenn ein Scherbenhaufen bis heute geblieben ist.
Die Holzkünstler von Petit-Goâve schnitzten nicht nur ihre Geschichte. Sie schnitzen auch ihre Zukunft. Sie schnitzen Einbäume, Schiffe, die sie in ihre Zukunft tragen sollen. Kanus aus einem einzigen Stamm, ohne ein weiteres Holzstück zu verwenden. Manchmal sogar mitsamt Querbänken, die nicht eingesetzt, sondern ebenfalls aus dem Stamm herausgearbeitet werden. Die halten dicht, kein Tropfen Wasser dringt ein. Nicht wie in den aus Latten zusammengesetzten Ruderbooten, die man ständig ausschöpfen muss. Sie werden mit Hilfe von schwelendem Feuer grob angehöhlt und dann ausgeschnitzt.
Einbaum-Kanus, wie sie in Europa die Pfahlbauer brauchten, und Jahrtausende später die nordamerikanischen Indianer. Heute sind beides „entwickelte“ Länder, und Einbaum-Kayaks gibt es dort nur noch in den Museen. Hier gibt es noch viele dieser Ur-Kanus, noch heute. Sie liegen nicht nur auf dem Strand von Petit-Goâve, sie wagen sich auch aufs Meer hinaus. Mit einfachem Paddel, oder sogar mit Segel, oder es treibt sie einfach. Sie wissen nicht wohin. Sie hoffen, in eine bessere Zukunft. Doch viele treiben in den Tod. Der kann ja nicht schlimmer sein als ein Hungerleben. Kanu ahoi, Glück für die Fahrt !