Haiti: Mein Haus vor und nach dem Erdbeben

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Datum: 07. August 2010
Uhrzeit: 15:47 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Mein Haus noch vor 17 Uhr. Fast 20 Jahre lang durfte ich den Luxus genießen, den ich mir aus dem Verkauf meiner drei Schweizer Häuser geleistet hatte. Doch das Ende kam jäh.

Vom Türmli und den großzügigen Terrassen aus hatte sich eine einmalige Aussicht über die noch unverbaute Küstenebene und aufs Meer geboten.

Etwa vor einem Jahr kam eine vierbeinige Tochter dazu. Sie beschützte mich vor schiesswütigen Antennendieben und schaute mit mir Fernsehen, wenn ich das ausnahmsweise tat. Ata schien das Beben im Voraus zu spüren, eine Sekunde früher sprang sie vom Dach und blieb seither verschollen.

Ich hatte versucht, hier ein kleines Paradies zu realisieren, nach meinen Vorstellungen. Mehrere Windspiele versetzten mich in sphärische Träume, und zwischen den Doppelböden unter den Terrassen nisteten sich tropische Eulen ein.

Aber ich träumte nicht nur in meinem kleinen Paradies. Wir beherbergten arme Kinder und Waisen, die wir aufzogen und denen wir die Schule ermöglichten. Eines davon studiert heute an der Sorbonne in Paris. Und ich beherbergte nicht nur Tiere, sondern auch prachtvolle Pflanzen, die mein Haus mit einem Urwald umgarnen durften.

Am Abend des 12.Januar war ich zum Glück außer Hauses, und nach dem letzten Blick auf die Prinzenstadt Port-au-Prince hinunter versank diese in einem braunen Nebelmeer des Todes.

Die Häuser neigten sich hin und her, krachten zusammen, und es schüttelt noch heute ( das Bild ist rekonstruiert aus der Erinnerung ).

Wer konnte, der schrie ums Leben, aber hunderttausende starben unter den Trümmern. Zuerst unter freiem Himmel, dann unter Tüchern harrten wir aus, 10 Tage lang – einige heute noch, mehreren Monaten. Wer weiß, wie lange noch. Denn es schüttelt noch immer, die zerrütteten, stehen gebliebenen Häuser stürzen noch immer ein, und inzwischen hat der Himmel auch seine Schleusen geöffnet.

Ich wusste, was los war: die nordamerikanische Kontinentalplatte hatte sich um mehrere Meter nach Norden, die karibische Scholle nach Süden verschoben. Man sieht auf dem Satellitenbild deutlich den Einschnitt, den der Bruch hinterlassen hat. Das Tal ist unbewohnt, hier teilt sich die Insel. Das dauert noch hunderte von Millionen Jahren, und es wird noch viele Erdbeben, und noch viele Tote geben.

Ich ging nicht mehr zurück zu meinem Haus; ein Blick auf Google-Earth genügte. Wie weiter ? Ich hoffe, dass ich es einmal wissen werde. Ich weiß nur, dass wir bei Null beginnen müssen. Oder beginnen dürfen? Denn jeder Neubeginn ist eine Chance. Schrieb doch ein Kind: „Das Wunderschöne ist, dass es nun jeden Tag besser wird !“

Es wurde noch nicht besser. Es wurde Frühling, bis ich die Trümmer sehen konnte. Die Trümmer meines einstigen Paradieses. Ich musste fast wegsehen. Jetzt heißt es Wegräumen, Betonbrocken zerkleinern, Eisen zersägen. Einige Freunde haben uns etwas gespendet, sehr vielen Dank den Freunden! Mal sehen, wie weit es reicht.

In der alten Heimat spart meine Familie, eigentlich ursprünglich von hier, auf ein neues Haus. Ich wünsche ihr, dass sie dieses Ziel dereinst erreicht und dass hier wieder ein neues Paradies wird. Ganz Haiti soll ein neues Paradies werden, auch wenn das Generationen dauern wird.

Ergreifende Bilder aus den Tagen um den 12.Januar, als um 16.53 Uhr Haiti, der Nachbarstaat der Dominikanischen Republik, zu beben und zu sterben begann.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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