Nostalgie zuerst nicht gemeint wegen Voudou, sondern wegen dem fast einzigen Bild meines einstigen Hauses in Gressier, das dem Erdbeben zum Opfer fiel. Wegen dem prächtigen Fernseh-Schirm, der mir während weniger Wochen erlaubte, haitianische Dokumentarsendungen zu schauen – vorher hatte ich es ohne Fernseher ausgehalten. Und wegen dem Ausschnitt aus einer meiner Bibliotheken, die mein Stolz waren, die bald unter Schutt und Schlamm zerstört wurden, mit all ihren Schätzen, tausenden von Büchern, auch solche in altem Leder und handgeschöpftem Papier, ebensovielen Videos, Fotos und Dias.
Die Dokumente eines Lebens. Show, aber auch Glaube und Aberglaube, Zeremoniell und Zauberei, Höllendienst und Hexenkult. Voudou ist mehr als eine Religion, eine Philosophie, Parapsychologie, Magie, eine Volkskultur oder ein Lebensstil, Voudou ist alles zusammen, und vor allem ein Geheimnis. Und eine Welt und eine Wissenschaft. Kompliziert und reich wie eine Wissenschaft, auch wenn eine Glaubenssache eigentlich das Gegenteil von Wissenschaft bedeutet, weil es nicht beweisbar ist. Für viele bedeutet Voudou auch Nostalgie. Ich hatte Voudou seit 20 Jahren erlebt und werde das weiter erleben dürfen, man kommt hier nicht darum herum. Trotzdem blieb Voudou auch für mich ein Buch mit sieben Siegeln.
Der Zufall will, dass im nächsten Nachbarhaus ein Hougan thront, sodass ich viel von Zauberkünsten und Klamauk mitbekomme, manchmal schlaflose Nächte, manchmal seltene Bilder, aber immer unverständlich, wie heute diese Fahnen. Normalerweise hängen einfache rote Tücher über den Dächern der Voudou-Tempel, plötzlich wechselten sie die Farbe, und es wurden zwei. Klar ist nur, dass es sich bei den Fahnen um magische Gegenstände handelt, die im Voudou-Kult zuhauf eine Rolle spielen.
Auch Zaubersprüche und -klänge sind magieverdächtig, ich habe das Gefühl schon bei der täglichen tausendfachen Wahrnehmung des Wortes „Hallelujah“ das hier von den Gläubigen jeder Religion – auch der christlichen – ausgeschrien, gesungen und getanzt wird, das in immerwährender Wiederholung den Inhalt ganzer Lieder bildet, das kombiniert wird mit den absurdesten Körperverrenkungen und in unaufhörlich neuen Variationen und Artikulationen auftaucht. Der Wortklang allein scheint mir so fremdartig, sogar das Schriftbild, dass er an einen Zauberspruch erinnert.
Zaubersprache auch die Sprache der Trommeln, die mir aus dem Voudoutempel unter die Haut fährt, manchmal die ganze Nacht hindurch, und keinen Augenblick. „Ohrenblick“ kann man ja nicht sagen, gleich wie der andere. Dieses Hörerlebnis ist so vielfältig und einmalig, dass mir die Worte fehlen – es kann gar nicht in einer anderen Sprache wiedergegeben, es MUSS eben getrommelt, gehört und gefühlt werden. Die Trommeln sind sehr einfach und handgemacht, haben ganz verschiedene Formen und Größen und erzeugen eine unglaubliche Welt von Klängen. Sie werden mit bloßen Händen gespielt, und dies oft pausenlos während Stunden.. Eine Trommel bildet auch das Zentrum des Staatswappens von Haiti.
Im benachbarten Voudou-Tempel hören in der Regel die faszinierenden Trommelkonzerte um Mitternacht schlagartig auf, in Ausnahmefällen dröhnen sie aber die ganze Nacht hindurch. Es ist mir unbekannt und unbegreiflich, was die Gläubigen im Dunkel des Wellblechtempels tun, ich habe noch nie ein Lichtlein gesehen, alles passiert im Dunkeln. Das war anderswo ganz anders, jeder Kult scheint seine eigenen Regeln zu beachten, Es ist mir auch unbekannt, wieviele Menschen sich in die kleine Hütte drücken, ich höre nur die Stimmen der Kommenden, es müssen Zahlreiche sein. Alles ist Geheimnis, alles ist Rätsel.
Schon die Schreibweise ist rätselhaft, man findet Voudou, Voodoo, Voodoo, Vodun, Wodu, Vodun und mehr, und alles das Gleiche. Es ist eben eine Transkription, wahrscheinlich direkt aus der „Sprache“ der Götter.
Es existieren hunderte von Göttern oder Loas, niemand hat sie gezählt. Entsprechend gibt es auch viele Gruppen von Voodoo-Gläubigen, jeder Gott hat seine eigene Gruppe, und vielleicht erfindet auch jede Gruppe ihren eigenen Gott ? Der oberste Gott ist „Bondye“ (französisch „Le Bondieu“, deutsch „der Liebe Gott“), der oberste Loa ist Olorun, wichtig ist auch Obatala. Es gibt noch unzählige Götter, Geister und Ahnen, „Papa Legba“, als Mittler zwischen Göttern und Menschen, „Agowu“, der Stürme und Erdbeben auszulösen vermag, „Damballah“, der Gott der Schlangen, „Ogu“, der Gott der Kriege, „Ghede“, „Agwe“, „Erzulie“ & Co.
Berüchtigt sind auch die Zombies. Sie geistern durch Albträume der Kinder, schockieren in Horrorfilmen und haben ihren Ursprung im Voodoo-Kult. Es handelt sich dabei um geraubte, dauerhaft schwer narkotisierte Menschen, die in körperlicher Verwahrlosung leben und Schwerstarbeit verrichten müssen. Priester sollen auch bereits Verstorbene wieder zum Leben erwecken können, die sie als Zombies missbrauchen. Man spricht auch von Untoten. Da ihre Angehörigen nichts von diesem Dasein wissen und sie für tot und begraben halten, fällt ihr Schicksal nicht auf.
Viele Haitianer bekennen sich neben dem Glauben ihrer Vorfahren auch gleichzeitig zum Christentum und bringen katholische Traditionen in ihre Riten ein.
Ein Priester heißt Houngan oder auch Babalawo, eine Priesterin wird Mambo genannt. Seitdem am 4. April 2003 Voodoo zur Staatsreligion erhoben wurde, haben Houngans und Mambos dieselben Rechte wie ihre katholischen Kollegen. Sie dürfen offiziell Ehen schließen, Taufen durchführen und Begräbnisse leiten. Die Voudoui-Religion wird auch staatlich gefördert und hat ihre eigene, tägliche Fernsehstunde. Wie im Chhristentum, so gibt es auch im Voudou sehr gebildete Persönlichkeiten. In der besagten Sendung Kalfou hörte ich nach dem Erdbeben einen Voudouisten sagen: „Die Christen erklären die Katastrophe mit Weltuntergang und Strafe für die begangenen Sünden. Unsere Religion hat Verängstigung der Menschen und Bestrafungszenarien nicht nötig, wir wissen um die Kräfte der Natur und geben den Menschen Mut und Zuversicht.“
Die ursprünglich afrikanische, heute kreolische Religion existierte schon seit tausenden von Jahren. Sie ist vor allem durch Opferdarbringungen und Praktizierung von weißer und schwarzer Magie bekannt. In Haiti gehören etwa Dreiviertel der Menschen dem Voodoo an. Gleichzeitig bekennen sich 90 Prozent auch zum Katholizismus. Ich vermute, dass aber alle Haitianer an Magie glauben, mindestens an die Weiße.
Im Voodoo-Kult Haitis dominieren Rada und Petwo. Rada ist älter und somit traditionsreicher. Rada-Loa sind sanft und haben aufbauende Eigenschaften. Petwo entstand mit den Befreiungskriegen Ende des 18. Jahrhunderts. Dies erklärt die aggressivere und kriegerische Natur der Petwo-Geister, von denen es heisst, sie hätten sich zum Teil aktiv am Unabhängigkeitskampf beteiligt. Am 14. August 1791 versammelte der aus Jamaika entflohener Sklave Boukman ( Büchermann ) im Wald von Bois Caiman nahe Cap Haïtien geflohene Sklaven und forderte zum Aufstand auf. Er zelebrierte eine berühmte Petwo-Zeremonie und eröffnete den Krieg, der am 1. Januar 1804 mit der Unabhängigkeitserklärung Haitis endete.
Bekannt ist auch das Herstellen von Voodoo-Puppen, die oft einem bestimmten Menschen nachgebildet sind. Manchmal wird auch ein Foto auf den Kopf der Puppe aufgeklebt. Durch das Stechen in die Puppe oder Durchbohren mit Nadeln sollen dem Betroffenen Schmerzen zugefügt werden. Vor allem aber werden Voodoo-Puppen zum Heilen von Kranken benutzt.
Hougans sind Meister der Magie. Sie versuchen, Macht über andere Personen auszuüben und diese mittels übernatürlicher Kräfte, Geister und Dämonen mit Hilfe von Ritualen, Beschwörungsformeln oder ähnlichen Praktiken zu beeinflussen. „Der Hintergrund dieser Magie ist der hermetische Grundsatz: „Wie oben, so unten; wie innen, so außen; wie im Großen, so im Kleinen.“
Damit ist gemeint, dass alle Wesen und Dinge über Sphären miteinander verbunden sind und durch Zauberhandlungen wechselseitig beeinflusst werden können. Beim Analogiezauber geht man davon aus, dass eine Einwirkung in der einen Sphäre gleiches in einer anderen Sphäre bewirken kann.“ Die Weiße Magie soll Schutz und Heilung bewirken, Abwehr-, Gesund- oder Heil-, Fruchtbarkeits-, Glücks-, Liebes-, Schutz-, Toten-, Wetter-, Widerzauber und mehr. Demgegenüber bedeutet Schwarze Magie Schadenszauber bis zu Verwünschungen und Tötungen.
Für all die metaphysischen Dinge kann man vollkommen unterschiedliche vom jeweiligen Bildungsstand des Anwenders abhängige Erklärungsmodelle heranziehen. Schon positives Denken, Willenskraft, Esoterik, Meditation, Bewusstseinsleere beinhalten Formen der Naturmagie. Voudou und Magie ist ein kulturelles oder soziales Phänomen, das auf metaphysischen Annahmen und Glauben basiert. Aus Sicht eines praktizierenden Magiers kann die Abhängigkeit von Institutionen, Dogmen und Glaubenssätzen, welche dem Gläubigen Schranken des Denkens und Verhaltens auferlegen, das Individuum seiner Freiheit berauben und in Kant’sche selbstverschuldete Unmündigkeit führen, die es abhalten, einen echten Bezug zum Göttlichen in sich selbst herzustellen, der nicht auf Glaube, sondern auf Erfahrung beruht. In religiösen Systemen sind heutzutage noch magische Praktiken Alltag.
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