Gestern Abend fegte ein ungewöhnlich heftiger Sturm unten über die Hauptstadt, die fast nur noch aus Zelten besteht. Dass der Strom jetzt unterbrochen ist, nach Verzehr der Batterien wohl wieder für sehr lange Zeit, hängt nicht mit Matthew sondern mit einem anderen Begebnis zusammen. Ebenfalls 24 Stunden vorher ereignete sich unten auf der Brücke ein Feuerwerk, wie ich es in dieser Form noch nie gesehen hatte: rund um den neuen Transformator knallte, blitzte und knisterte es, und während Minuten erhellte ein Lichtbogen die ganze Umgebung. Jetzt auch noch der Sturm – der hat die Leitung bestimmt nochmals zerfetzt. Der Strom ist also mehrfach unterbrochen, damit auch das nachhaltig bleibt.
Der heimtückische Matthew, der offenbar nicht als gefährlich genug eingeschätzt wurde um ihn hier auf der Sturmkarte anzuzeigen, zeigte sich am Nachmittag mit einem Gewitter-Ausläufer als dunkles Wolkenungetüm im Osten des Cul-de-Sac, dem Graben, der nach der Dominikanischen Republik hinüberführt und schon vielen Desastern zeigte, wo es lang geht. Rechtzeitig gingen wir heim in die Bergburg, und von guter Deckung aus blieb uns nur noch zuzuschauen. Der Wind rüttelte erbärmlich an Türen und Fenster, die wir nur noch zuschlagen konnten. Durch die Scheiben beobachtete ich, wie sich Palmen und andere Gewächse verneigten, die respektieren eben, was die Loas (Voudou-Götter) wollen. Und nach wohl einer Stunde war das Schreckgespenst vorbei. Es folgte eine ruhige Nacht, und jetzt ist morgens sechs, die Sonne erhebt sich dort wo gestern Matthew herkam, Schönwetter wie wenn nichts gewesen wäre.
Internet auf und sehen, was die schreiben – die drüben sind ja immer besser und rascher informiert. Die Abenteuer bei mir sind weniger spannend, aber dafür erlebt und wahr. Die Zeitungen sind voller Schlagzeilen: „Mindestens 21 Tote bei Sturm „Matthew“ in Haiti, Fünf Überlebende des Erdbebens in Haiti bei Sturm getötet, Man kann niemanden retten, Die Lage könnte schlimmer nicht sein.“ Wir, die an Ort sind und diese Zahlen sehen, staunen nur. Wir bekomme unsere Info nur aus den Übersee-Blättern–Online Medien aus Europa reimen sich allerhand zusammen, um schnell eine News zu bekommen und berichten von Chaos und Panik–welches es nie gegeben hat.
Die Schadenorte sind punktuell, hier um die Bergburg hatten wir zum Glück keine Schäden. Von der Arbeit zurückkehrende Nachbarn berichteten von weggetragenen Zelten, von eingestürzten Häusern in Délmas, telefonisch hörten wir von „großen Schäden“ auf der Halbinsel Tiburon.
Ich kann also im Moment keine Bilder machen und behelfe mich mit einem schon erschienenen Foto. Ich bitte meine Leser, sich zu gedulden, ich werde wieder berichten, wenn sich Neues ergibt, und wenn die Straßen wieder befahrbar sind, und zwar ohne Faltboot. Die Wahrheit sehen können wir noch nicht, denn die Straßen sind unter Wasser und unpassierbar, aber die Sonne scheint wieder. Und wenn man die Wahrheit sieht, ist es für die neugierigen Leser zu spät.