Über die grässlichen notwendigen Amputationen nach dem Erdbeben habe ich schon erzählt. Nachdem das moderne amerikanische Spitalschiff abgezogen war, blieben drei große Amputationszentren übrig: für den Norden Milot, für Zentralhaiti das Albert Schweitzer-Spital im Artibonite und für den Süden das neue Feldspital Léogâne.
Léogâne ist eine Provinzhauptstadt mit einst 130.000 Einwohnern, heute weiß man nicht wie viele noch. Sie liegt ein paar Kilometer von meinem einstigen Haus in Gressier. Hier lag das Zentrum des schweren Erdbebens in Haiti. Hunderte Tote wurden hier aus den Trümmern gezogen und in Massengräbern bestattet. Heute sind wir mitten in den Wahlen. „Unsere Zukunft ist die Jugend“, posaunten die zukünftigen Politiker, schon vor der Apokalypse und jetzt vor ihrer Wahl. Und eigentlich hatten sie recht, bis zum 12.Januar. Seitdem lebt ein Großteil der Jugend in Prothesen, wenigstens die die Glück hatten, ganz viele aber einfach ohne Glieder. Sie liegen hilflos da und werden gefüttert, hoffentlich häufig genug. Aber die Zukunft des Landes ist das nicht.
Der 29minütige Film des Deutschen Fernsehens vom 17.Oktober zeigt die Geschichte von Choute, einem sieben Jahre alten Jungen aus Léogâne, der beim Erdbeben ein Bein verloren und das andere verletzt hatte. Choute wurde unter den Trümmern eines Hauses verschüttet und nach zweitägigen Bemühungen ausgegraben. Das rechte Bein musste amputiert werden. Der Junge hat bei seiner Großmutter in Léogâne Zuschlupf gefunden. Man macht ihr jetzt den Vorwurf, am Unglück schuld zu sein, sie hätte besser aufpassen müssen. Schuldzuweisungen und Vorwürfe erschweren das Leben der ohnehin traumatisierten Menschen ungemein.
Krücken- und Prothesenmenschen gehörten schon vorher zum Straßenbild in Haiti, der Nachbarrepublik der Dominikanischen Republik undsind aber seit der Jahrtausendkatastrophe leider trauriger Alltag geworden. Mehrere auch mir befreundete Schweizer Ärzte haben ihre Arbeitsstätten verlassen und sind in die Trümmer gezogen, wo sie einige Monate amputieren und den Betroffenen helfen werden.
Auch die Johanniter Deutschland, eine bedeutende protestantische Ordensgemeinschaft mit karitativen Zielen und tausendjähriger Geschichte, arbeiten in Léogâne und haben da eine mobile Prothesenwerkstatt aufgestellt. Sie wollen für viele der rund 4000 Amputierten in Haiti professionelle Prothesen herstellen. Denn die einzige einheimische Prothesenwerkstatt ist eingestürzt und existiert nicht mehr.
Auch Choute gehört zu den Auserwählten. Auch er bekommt eine neue Prothese, die mehr sein soll als nur eine Stelze. Steuerbare Gelenke sollen dafür sorgen, dass der Junge wieder laufen und sogar Fußball spielen kann, was vorher seine Lieblingsbeschäftigung war. Gleichzeitig werden Haitianer lernen, selber Prothesen zu bauen, damit sie in einigen Jahren die Orthopädiewerkstatt übernehmen können. Choute befragt zu seinem innigsten Wunsch: „Ich würde mir wünschen, dass ich mich irgendwann damit wohlfühle“.
Die größte Hilfe für die Opfer in Haiti ist es aber, Zuwendung von andern Menschen zu erleben, Hilfe zu erleben und sich nicht allein gelassen zu fühlen.
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