Am Stephanstag sind wir nach Jacmel getuggert. Außer dem Besuch nach dem Erdbeben (Karibisches Bermudadreieck) war das schon lang überfällig. Warum ist bekannt. Aber es war wichtig. Ich habe Haiti, die Nachbarrepublik der Dominikanischen Republik, nicht wieder erkannt. Zwar ist das Landschaftsbild weitgehend zerstört, man kennt das Land nicht mehr. Die prächtigen Postkartenlandschaften sind verschwunden. Aber die Abfallberge auch. Tausende von Zelten und Holzhäuschen bilden gegenwärtig für das Auge nicht die berühmte Weide, aber ein überaus positives Bauland für die Zukunft, ein Bild keimenden Lebens, knospender Entwicklung.
Im Jahrhundert-Staunest Carrefour (Kfou) sind die außerhalb der Haltestellen anhaltenden, zerbeulten Sammeltaxis und die dutzendweise mitten auf den Fahrbahnen stehenden Pannenfahrzeuge verschwunden. Die Straße ist begradigt und verbreitert, die löcherige Holperpiste durch breite Betonplatten ersetzt. An den paar Kilometern, die erst noch ein Tageshindernis bildeten, kann man zufahren. Vor dem Mache Kfou, wo die ungestümen Bäche aus dem Tal des Erdbebengrabens hervorbrechen, die Straße überfluteten und eine 20jährige Baustelle bildeten, tut sich ein technisches Wunder. Bald wird ein neues Problem die Polizeikräfte beschäftigen, das Problem der Raser.
Das unglaublichste Wunder aber ist der gelungene Wechsel der Mentalität. Außerhalb Carrefours, bis hinüber über die Berge nach Jacmel und der ganzen Südküste entlang, sind die üblichen Abfallhaufen verschwunden. Alle Straßen sind so sauber wie wenn morgen Obama erwartet würde, dessen Lobkompa auch aus allen Lautsprechern erschallt, die Straßen stubenrein. Keine einzige Plastikflasche mehr auf oder neben der Fahrbahn, ganze Equipen in farbigen T-Shirts unterwegs zur Reinigung oder zur Aufklärung. Andere Equipen in anderen Farben sind auf den Beinen zur Aufklärung über die Cholera, die immer noch grassiert. Wunder über Wunder, und zwar nicht vereinzelt, sondern überall. Man übersieht nicht nur fast die Kräfte des 9-Millionen-Volkes, das sich hier wehrt, sondern auch die Millionen von Ruinen, die langsam überwuchert werden, die Trümmerhaufen, deren Abbau nach menschlicher Planung 15 Jahre dauern soll, sind am Abtauchen. Das ist den unbändigen Naturkräften egal. Sie lassen den Menschen nicht so lange Zeit, wie die es planen. Bald wird der Kampf gegen Grün statt Grau losgehen.
Auf der Bergstraße nach Jacmel begegnen uns Hundertschaften von Zivilpersonen mit Kübeln und Besen. Wischequipen sind an der Arbeit, selbst wo es nichts mehr zu wischen gibt, jeder trägt heute einen Besen wie früher eine Pistole oder Machete. Was keine Präsidenten, keine Rap-Sänger und keine Fernsehspots fertiggebracht haben, hat das Choleragespenst geschafft, mit tausenden von Toten: das Bewusstsein für Hygiene und Sauberkeit. Selbst Kleinkinder sprechen davon. Welches Wunder, wenn das so bleiben könnte.
Dabei kommt dem Besenwunder ein alter Brauch zu Hilfe: in ein paar Tagen ist Neujahr- und Neujahr ist das Hauptfest des Voudou-Volkes. Auf diesen Tag hin werden Straßen und Häuser gewischt und geschrubbt, man will das Neue sauber beginnen. Ballasten und Altlasten zurück lassen und vergessen, das war natürlich noch nie so schwierig wie 2010. Dass man sich selber schrubbt, ist ohnehin klar, auch alles zum Anziehen und alles was rumsteht kommt in die Mange, die Neujahrsputzete ist allumfassend.
Ich habe immer an Haiti geglaubt, jetzt tu ich es erst recht. Belächeln Sie mich nur, wie Sie es schon lange taten. Sie werden sehen. Natürlich geht die Cholera noch weiter, verursacht täglich ihre Toten, es werden noch tausende sein. Und all die Naturkatastrophen, die Erdbeben, die Wirbelstürme, die Überschwemmungen und Erdrutsche werden weiter zerstörerisch wüten. Aber der Blutzoll gerät unter Kontrolle, wie es in Chile war, und oft in den USA gelingt. Alles ist auf dem Weg zur Besserung, auch wenn dieser Weg noch weit ist.
Mit den Weihnachts- und Neujahrswünschen bin ich bald in etwa durch. Ich erwidere sie hier nochmals voller Zuversicht. Und den Etlichen, die mir nahe legten, mir eine Rückkehr doch noch zu überlegen, rufe ich zu: Niemals, denn hier geschieht Welt, Leben, und ÜBER-Leben. Ich glaube an dieses Volk, jetzt erst recht. Ich will von nahem erleben, was hier geschieht, denn das Wunder hat begonnen, das Wunder wirkt. Einst wird es dazu nicht mehr so viele Tote brauchen, dann wird das Wunder explodieren.
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