Der Zootierarzt von Miami hatte mir ein Baby anvertraut, ich hatte dafür einen dreistelligen Dollarbetrag geopfert. Weil mir bekanntlich Tiere viel bedeuten, Geld nichts (selbst wenn ich keines habe). Es war ein besonderes Baby, und niemand hätte geglaubt, dass daraus eine mehrhundertjährige, metergroße, dreihundert Kilo schwere Riesenschildkröte werden könnte. Ich hätte das ja ohnehin nie mehr erlebt, Baby war eben – in Zahlen ausgedrückt – stärker als ich.
Baby war noch so klein und zerbrechlich und anfällig und… und… und… wie ein Hühnerei und fand bequem in meiner Hosentasche Platz. So war das Schmuggeln nach Haiti kein Problem, zumal da die Welt noch heil war und American Airlines ihre Fluggäste von den peinlichen Kontrollen verschonten. Und von den noch peinlicheren Druckluft-Puff-Schock-„Telefon“ Kabinen usw. usf.
Im Flugzeug durfte Baby unter meinen Beinen und um meine Füße spazieren, das gelang von Sitznachbarn und Stewardessen völlig unbemerkt. Auch von Zoll- und Tierimportvorschriften hielten wir beide nichts, Baby und ich. So gelangten wir schließlich ungeschoren nach Gressier. Dort steht ja – Sie wissen es schon lange – mein Haus mit Türmchen, tropischem Gärtli, Seesicht und so.
Vor der Haustür hatte ich eine Babylandschaft eingerichtet, mit Höhlenfelsen zum Verstecken, Wasserteichen und Tropenpflanzen, großzügig und dekorativ. Freilandterrarium nennt sich das. Baby gefiel es offensichtlich, Zwischenbemerkung: – Ach Gott, was haben wir denn für Probleme. Und ein paar Meter weiter verhungern sie, die Kinder, werden verkauft, vermietet, verspeist, und noch schlimmer. Was denn, was gibt es noch Schlimmeres? Entschuldigung, zurück zum Thema. Zum Baby, zur Babylandschaft, zur „Realität“.
An Baby konnte ich sogar lernen. Jeden Tag. Ich habe ja immer gesagt, und oftmals geschrieben, wer nicht mehr lernt, jeden Tag, der ist bereits (lebend) gestorben. Ein Zombie. Baby war intelligent, intelligenter als die Schildkröten aus meiner Jugend. Ist es die andere Art, die „Riesenschildkröte“ (in meiner Jugend hieß das nur „Griechische Landschildkröte“), oder sind Namen – wie bei Goethe, Schall und Rauch? Ist es die Beschäftigung mit dem Wesen, die Kommunikation, Interaktion, Intuition, oder wie die -ions alle heißen mögen? Man muss Unbekanntes stehen lassen können. Mindestens vorläufig. Oder mehr.
Baby hatte auch einen Namen. Ich habe ihn vergessen, ist auch nicht wichtig. Namen sind Schall und Rauch (Goethe, aber einverstanden). Wenn „Mama“, meine Frau, oder ich diesen Namen riefen, reagierte Baby und kam an getrampelt. Auf seinen vier hochgestellten Beinchen. Natürlich winkte dann eine Belohnung, eine teuer erstandene Erdbeere, ein Blatt Salat, oder so was. Man kann dem auch, abwertend, „Dressur“ sagen. Aber für mich war es Kommunikation, und noch mehr: es kommt ja heute, viel Jahre später, in dieser Kolumne wieder.
Sei dem wie es sei, Baby kam und kannte uns und fraß uns aus der Hand. Tun denn Menschen wesentlich Anderes, Besseres? Despektierlich nennen es viele „Profitieren“. Ich meine, Geben und Nehmen ist mehr. Umfasst nicht nur Berechnung. Umfasst auch Gefühle, Zuneigung, Sympathie, Freundschaft, Vertrauen, Hingebung, vielleicht sogar Intuition.
Der Azuli, mein damaliger Boy und Obertrottel, besaß das eben nicht. Er pflegte übergroße, schwere Nagelschuhe zu tragen. Warum, das wissen nur die Loas und Damballahs, die Götter des Voudou. Dass ich mit meiner Instruktion, was Baby bedeute und wie es zu behandeln sei, bei einem solchen Obertrottel nie ankam, war natürlich mein Versagen, meine Fehleinschätzung und meine Schuld. Jedenfalls trampelte der Obertrottel mit seinen übergroßen, schweren Nagelschuhen Baby Riesenschildkröte zu Tode. Unglaublich, schrecklich, meine Schuld. Ich bin seither nie mehr nach Miami zurückgekehrt und schäme mich vor dem Zoo-Tierarzt, der mir das seltene Baby anvertraut hatte.
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