Alpsegen auf haitianisch

Papi-Ritt-4B

Datum: 05. Januar 2010
Uhrzeit: 07:32 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Redaktion
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Dass mit „Morne“ in Kreolisch, ähnlich wie mit „Haiti“ Berge und Steilen gemeint sind und dass das ein kreolischer Plural ohne „s“ ist, wissen ja meine geneigten Leser und Leserinnen, aber da ich zum Glück nicht nur Stämmige, sondern immer wieder auch neue Lieblinge habe – wie schön, einem Wort zu begegnen, das weiblich oder männlich oder sogar sächlich verstanden werden kann, und die Lieblinge sind ganz gegenseitig, möchte ich wieder einmal betonen, dass ich die Sprache etwas schönes finde und nicht gern mit sprachfremden Bildungen wie „man/frau“ oder „Leser/Innen“ verhunze.

Also wir haben gelesen, dass die in Miragoâne entspringende Piste der Tiburon-Nordküste den Namen „Strasse“ nicht verdient und auch als Trasse für Motorfahrzeuge ab Anse-à-Veau nicht mehr passierbar ist. Für die näheren Morne stehen seit jüngstens Moto-Taxis zur Verfügung; den Helm muss man sich allerdings vorstellen oder selber mitbringen. Normalerweise steigt man aber auf ein Reittier um. Maultiere, Maulesel, Esel und gelegentlich Pferde stehen zur Miete bereit, wenn die überladenen Busse aus der Stadt eintreffen. Die Reisenden führen meist so viel Gepäck mit, dass sie gleich noch ein oder zwei Packtiere mit chartern müssen.

Auch mich packt so ein geduldiges Mulet auf den Rücken und trottet gemütlich los. Am Anfang geht es durchs Bachbett aufwärts, es ist das Bett des Grande Rivière de Nippes, also des fürchterlichen Flusses, der weiter unten jedem Verkehr ein Ende setzt, selbst bei Niederwasser für Reittiere und Motos zu tief ist. Hier, ein schönes Stück weiter oben, kann ich hingegen meist durch Hochziehen der Beine dem Auslöffeln des Flusses ausweichen. Hie und da stapft das Tier zur Seite, einen Erosionskamm hinan und jenseits wieder hinunter und in den Wildbach, um einem Kolk oder einer Stromschnelle auszuweichen. Dann wieder hält es mitten im Strom inne um lange und genüsslich Wasser zu schlürfen. Dieses scheint so klar und frisch, dass man beinah versucht wäre, es dem Tier gleich zu tun.

Wenn ich mit den Schnalzbefehlen, dem Zügelschütteln oder der „Navigation“ nicht mehr zurecht komme, sind stets ein-zwei Dompteure in Griffweite um zu helfen. Besonders nach dem Verlassen der natürlichen Wasserstraße fehlen mir schlechthin alle ergonomischen wie auch navigatorischen Voraussetzungen, denn jetzt geht es auf kaum fuß breiten Spuren steil bergan, manchmal über offene Rasenflanken, dann wieder durch fast undurchdringliches Dickicht.

Die Vegetation erinnert mich mehr und mehr an diejenige auf afrikanischen Hochgebirgen, und umfasst teilweise die gleichen Pflanzen. Allerdings fehlen die zehn- und zwölfmeterhohen Riesenblumen von Ruwenzori und Kilimandjaro, aber ihre modellartigen Verkleinerungen sind ebenso interessant. Mein einziges Bedauern geht dahin, seinerzeit in der Botanik nicht besser aufgepasst zu haben. Zudem war drüben in Afrika die Information durch ein reiches Literaturangebot erleichtert, während ich hier in Haiti noch kein einziges diesbezügliches Buch gefunden habe. Kommt dazu dass sämtliche geläufigen Namen auf etwas anderes verschoben sind und Altbekanntes plötzlich nicht mehr gilt.

Immerhin, dass dies mit Höhenvegetation zu tun hat und dass wir höher steigen, merkt auch ein Blinder. Und dass dieser eine Mangobaum ist der einst gestutzt wurde und wieder ausgeschlagen hat, sieht man auch ohne Fachkenntnisse. Andernorts wäre so was ein Geschichtsbuch über ein paar hundert Jahre. Hier in den Tropen sprießt alles im Zeitraffer. Ein paar hundert Jahre werden zu ein paar Dutzend, oder sogar ein paar Jahren.

Zeugnisse der nahen Siedlung mehren sich. Die Natur liefert wertvolle Kräuter. Wertvolle Kräuter – hier Rote Chillischoten, die sollte man mit Handschuhen anfassen um Hautirritationen zu vermeiden – die werden an Ort geschützt und ja nicht verpflanzt. Sie werden auch vor Abschwemmung und Unachtsamkeit geschützt, sorgsam eingehagt durch eine kleine Flechtwand.

Und dass nahe einem halbkünstlichen Fruchtspalier gleich ein Bauernhaus folgen muss, lässt sich erraten. Auch wenn sich das Bauernhaus den örtlichen Gegebenheiten angepasst hat, wir passen uns auch an, das fällt uns nicht schwer. Ich möchte am liebsten hier bleiben, es gefällt mir hier. Der einzige Wermutstropfen: ich hatte eine Woche keinen Strom, und kein Internet. Aber ich habe gelernt, neue Geschichten auszudenken und zu erleben, OHNE Internet, OHNE sie aufzuschreiben, sie wieder zu vergessen. Ich habe VERGESSEN gelernt. Für meine Leserinnen und Leser sind sie verloren, Entschuldigung, für mich nicht!

Was mich sehr erstaunte, war die Sauberkeit. Obgleich scheinbar alles im Freien, war alles sauber wie in einer Wohnung drüben in Europa. Stunden wurden jeden Tag aufgewendet, um zu wischen, abzustauben, zu putzen. Jedes Blättchen, jedes Zweiglein, jedes Körnchen wurde aufgelesen und entfernt. Stunden wurden jeden Tag zum Wasserholen investiert, das Wasser musste weit heraufgetragen werden. Einfacher war es mit dem Feuerholz, das lag überall herum und musste nur aufgehoben und zerkleinert werden.

Was mich besonders erstaunte, war das ungebrochene Verhältnis mit dem Tod. Über dem Bett einer Person lag ihr Sarg schon bereit. Sogar die Papierblumen für den Totenschmuck waren gleich daneben aufgehängt. Dabei schien die Bäuerin, die mir für ein paar Nächte ihr Bett abgetreten hatte, gar nicht alt – ich hatte ihr noch Jahrzehnte zu leben zugetraut. Ich aber schlief ein paar Tage unter einem Sarg, das können wohl nicht viele von sich behaupten!


Am Abend kommen gelegentlich die Männer aus der Nachbarschaft zu einer Andacht zu Besuch. Sie sind in lange schwarze Mäntel gekleidet und tragen einen schwarzen Hut. Sie beten in monotonem Chor reformiert-christliche Gebete, singen einige religiöse Lieder und gehen dann weiter, von einem Nachbarn zum andern. Als Christen glauben sie zwar noch an all die krummen Dinge wie Zombis, böse Geister und Co., aber sie fürchten sich vor nichts mehr da sie sich von Jesus total geschützt fühlen. Er schützt sie vor allen irdischen und überirdischen, natürlichen und unnatürlichen Gefahren.

Draußen im Wald liegt auch das Grab schon bereit. In einem gepflegten Steinhaus, man sagt, in Haiti wohnen die Toten besser als die Lebenden. Das hat etwas. Alte und Kranke dürfen zuhause bleiben und müssen nie ins Asyl, und eine Familie bleibt für immer zusammen. Jedes Familienglied hat sein eigenes Totenfach, in das dereinst der Sarg mit der Leiche eingeschoben wird. Dann wird der Schacht zugemauert, die Schächte der noch Lebenden bleiben offen. Ganz in der Nähe steht auch das Grabhaus der Großeltern und ihrer Familie. Nur das Leben kann eine Familie trennen, und das Leben ist vorübergehend.


Heute besteht die Familie aus dem Bauer und der Bäuerin. Zwei kleine Schreihälse sind noch nicht flügge, etliche große Kinder sind ausgeflogen und suchen etwas in der Stadt, Arbeit, Brot, oder einen Partner. Hier draußen gibt es das für jeden, wenn nicht gerade Sintflut herrscht, oder ein anderer Schicksalsschlag. Früchte und Gemüse wachsen rundum, Gewürze auch, und wenn man die Haustiere zählt, kommt man an kein Ende, es fehlt an nichts was die Natur spendet.

Außer an Geld, Transportwegen, Strom und allem, was der Mensch dazu erfunden hat. So etwa einem batteriebetriebenen Transistorradio, oder selbstverständlich dem Internet, aber ohne das können die Bauern leben. Wenn größere Kinder anwesend wären, könnte man die mit einigen Naturkostprodukten hinunterschicken auf den Markt. Doch auch die Leute dort unten, die alle Käufer in Frage kämen, haben keine Arbeit, und folglich kein Geld. Aber ich muss schon sagen, die Menschen hier überschäumen vor Liebenswürdigkeit, sie geben alles und erwarten nichts. Ich habe ihre unvorstellbare Gastfreundschaft kennen gelernt, wie früher in Afrika.


Ich habe mich noch gar nicht zur Klangkulisse geäußert. Die wird nicht nur von kleinen Schreihälsen gespiesen, sondern dazu gehören auch die jodelartigen Gesänge der Jugend, die Gebetslieder der Gläubigen und die Tamtamwirbel der Tänzer, die sich in etwa allen Berghöfen zusammengefunden haben und durch die ganzen Nächte dauern. Die können sich noch herrlich unterhalten und vergnügen, ohne Fernsehen und DVD’s. Eine faszinierende Klangwelt, mich stört das keineswegs am Einschlafen – im Gegenteil: ich möchte stundenlang lauschen.

Aber der Clou folgt erst. In meiner Jugend hat mich Papa oft in die Berge mitgenommen, dort faszinierten mich urtümliche Klangwelten wie Alphörner, Jodelmelodien, Viehtrieblaute und Alpsegen. In katholischen Berggebieten der Schweiz wurden Maria und die Schutzheiligen nach Schutz für alle Lebewesen und die Habe auf der Alp angerufen. Die Älpler benutzten zur Verstärkung ihrer Stimme einen hölzernen Milchtrichter, durch den sie ihre Bitte mittels nur fünf Tönen aussangen. Im 17.Jh. wurde der Betrug als angeblich heidnischer Brauch von gewissen Gerichten verboten. Ich war bass erstaunt, morgens um vier jeweils von einem ebenfalls fünftonigen, hier protestantischen Beruf in faszinierend-afrikanischer Melodik geweckt zu werden, zu deren Verbreitung der Bergbauer ein batteriebetriebenes Megaphon benutzte. Etwas ganz Ähnliches kannte ich schon von Montagnes-Noires.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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