Ich fantasiere eher, dass die 365 mit dem Kalender etwas zu tun haben könnten, etwa für jeden Tag des Jahres eine Türe, oder wohl noch besser, für jeden Tag des Jahres ein Problem. Dann müsste man wohl das Jahr verlängern. Vielleicht schafft das Herr Préval auch noch. Ich habe nicht nachgezählt, aber wenn schon, dann schien es sich eher um 365 Fenster zu handeln als um Türen. Und dass hinter jedem eine Kanone stand, wie in gewissen Quellen vermerkt, glaube ich auch nicht – ich habe eine einzige Kanone gefunden- und die steht auf einem Sockel vor der Südfront. Es handelt sich wohl um Fantasie, oder die fehlenden 364 sind gestohlen.
Das historische Baudenkmal ist stark im Zerfall. Eine erste Instandstellung wurde bereits 1932 in die Wege geleitet. Damals wurde das Gebäude mit Wellblech abgedeckt, das von einem Holzgerüst getragen wird. Das damalige Ziel der Sicherung der historischen Substanz wurde aber verfehlt. Also Wellblech ist ja auch nicht das empfehlenswerteste Baumaterial um ein Kulturdenkmal zu schützen. Offenbar muss sich die UNESCO schon seit langem mit Budgetbeschränkungen zurechtfinden. Da sind die Kanonen auf der Zitadelle schon besser dran, hinter den dicken Mauern. Es sind übrigens auch wieder genau 365, für jeden Tag eine. Doch wirklich interessant! Trotzdem, zum Nachzählen ist mir das jedesmal zu dumm.
Jahre später wurden die Gemeindeschule, die École Madame Pageot, das Bürgermeister- und das Steueramt, dann auch noch die Post, die Téléco und die Polizei hier einquartiert. Nach der Schule bleiben die Kinder natürlich gerne und spielen Fußball; Ziegen und Hühner bevölkern den Palast innen und außen. Da träumt auch das Gerüst eines Lastwagens vor sich her. Die Rivartiboniter sind stolz auf ihr Kulturdenkmal und betrachten es wie ein lokales Heiligtum, tun aber nichts für seine Erhaltung.
Etwa einen Kilometer östlich des Palastes befindet sich das Fort von Crête-à-Pierrot auf einer Felsrippe am Eingang der Cahos-Schlucht und kontrolliert damit den Zugang zu den Cahos-Bergen. Toussaint befahl, diese Festung sei unbedingt zu halten, selbst unter schwersten Verlusten. Hier wütete 1802 eine grausame Schlacht der Engländer gegen die haitianische Armee, die erbittertste Schlacht während der haitischen Revolution. Auch diese historische Stätte ist verwüstet und verlassen, die Straßen von Felsen und Schlamm überdeckt und kaum passierbar.
Dieses Tal im Nachbarland der Dominikanischen Republik ist das fruchtbarste der ganzen Insel. Das hängt natürlich mit den regelmäßigen Überflutungen durch die Flüsse und Ströme zusammen, die mit ihren Schlammmassen die Ebenen bedüngen. Und dass gerade hier die Cholera ausgebrochen ist, immer noch wütet und täglich ihre Opfer schafft, hat auch damit zu tun. Denn Mikroben aus durchgerosteten Abwasserleitungen verbreiten sich schnell und werden zur tödlichen Seuche. Sie hat es fertig gebracht, dem Tal des Artibonite zu zweifelhafter Berühmtheit zu verhelfen. Was der verrückte König nicht geschafft hatte, mit all seinen Palästen und Festungen, die heute zu weltbekannten Bau- und Kulturdenkmälern aufgerückt sind, haben tausende von Choleraleichen, Überschwemmung- und Erdbebentoten fertiggebracht: der Artibonite ist jetzt weltweit jedem Schulknirps bekannt, während dem er bislang nicht einmal Haiti kannte.
Ich kann mir einen zynischen Vergleich nicht verkneifen, den zwischen dem Bau des Regierungspalastes vor 200 Jahren und dem von heute, der ebenfalls durch ein Erdbeben kollabiert ist. Auch der Bau des damaligen Palastes war auf den Zusammenbruch der königlichen Residenz von Sans-Souci zurückzuführen. Beide hatten eine so hohe Priorität, dass sie die der Schaffung von Wohnraum für die Bevölkerung und die des Sieges über Hunger und Krankheiten bei weitem übertraf. Der damalige Bauherr und König hat sich einen versilberten Abgang geschaffen, statt die letzten Probleme zu lösen, das Bauwerk aber wurde nie vollendet. Lässt sich daraus weissagen, dass für den heutigen Machthaber die Zeit für einen vergoldeten Abgang noch nicht genug reif ist?
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