Die Bauern der Küstenebene übernehmen, was die Regierung versäumt. Was vor meinem Türmli passiert, geschieht überall in Haïti. Ich habe es immer und immer wieder gesagt und geschrieben, auch hier: eine „Orts- Regional- und Landesplanung“ (ORL) wie es so schön in der Schweiz heisst, fehlt vollkommen, die Landschaft wird allenthalben zersiedelt, verbetoniert, verschandelt, verscherbelt, die letzten Nahrungsquellen versiegen, die Arbeit der Bauern auch. Übrig bleibt der Hunger der Nation.
Das Sorgenkind Aristide hatte auch Qualitäten, durchaus, auch wenn es eher seine polarisierende Wesensart ist als sachliche Differenzen, die uns trennten. Aber dass eine ORL vordringlich sei, hat er schon damals begriffen, immerhin vor rund 15 Jahren. In einer Art Exilregierung hatte er einen Planungsminister, der mich in einer Mönchskutte – nebst andern „Mönchen“ – im Zürcher Bahnhofbuffet traf. Zum Diskutieren, ich glaubte damals die Mönchsstory und hörte erst später, dass es der falsche Mönch auf mich als Assistenten abgesehen hatte. Ein paar Tage später wurde leider der „Mönch“ ermordet, und mit Zusammenarbeit und ORL war es vorbei. Vielleicht mein Vorteil: die haben mich wenigstens ernst genommen – genützt hat es auch nichts – und: ich lebe noch !
Dass es diesmal – fast 20 Jahre später – meine Nachbarn die Bauern und nicht mehr falsche Mönche sind, die zu mir kommen weil sie glauben ich könnte ihnen helfen, ist vielleicht ein Zufall wenn es Zufälle gibt. Die Probleme haben in dieser langen Zeit weitergewuchert, nein, sie sind ausgeufert, und ich sehe von meinem Türmli aus verrückte Baustellen ganze Berghänge verunstalten, eine unendliche Stadt hinter meinem Haus und auf beiden Seiten, die Cité Paysan, und was jetzt VOR dem Haus beginnt.
Natürlich müsste ich mit Herren wie Ban Ki Moon oder Bill Clinton diskutieren, aber da reicht mein Englisch nicht, und ich habe keinen Zugang. Letzteres gilt auch für die Personen, die Geburtenkontrolle verbieten und für Bevölkerungsexplosion und Hunger verantwortlich sind. Zudem kommt ein Alter, da beginnen sie über dich zu lachen. So bleiben nur noch die Bauern, aber um die geht es ja schlussendlich. DIE müssen überleben, nicht nur Ban Ki Moon oder Bill Clinton, DIE können etwas gegen den Hunger tun, den ihrer Familien, und des ganzen Volkes.
Ich kann nicht viel helfen. Das Internet wäre gut wenn es weniger von Netzdespoten manipuliert wäre und wenn die Artikel französisch wären. Deutsch scheint man hier nur zu verstehen wenn Missliebige abgeklemmt werden sollen, wie es mir gerade passiert ist.
Am besten wäre, die Bauern würden zum Präsidenten marschieren, was kaum möglich sein wird. Oder zur MINUSTAH, aber die haben anderes zu tun. Oder zum Landwirtschaftsminister, das habe ich ihnen geraten. Auch die Universitäten könnten sich für das Problem interessieren, eine meines Erachtens gute agronomische Fakultät befindet sich ja gerade hier in Collines-Christianville. Vor allem aber sollen sie einheimische Medien mobilisieren, Fernsehen, Radio, Printzeitungen. Das schlägt ein. Hauptsache, die Bauern sind jetzt motiviert, sie tun etwas.
Ich beobachte die Bauern bei Geländebegehungen. Ich finde das gut, denn da wird diskutiert. Rechtmässiger Landbesitzer war der Staat, dem das Küstenland seit jeher gehörte. Da der Staat Geld braucht, begann er vermeintlich sein Land zu verkaufen. Wie man hört, sind da nichts als Unregelmässigkeiten passiert. Das gleiche Land wurde mehrmals verkauft, sowohl von der Gemeindebehörde als auch von privaten Gaunern.
Falsche Verkaufsurkunden wurden ausgestellt, falsche Geometer und unberechtigte „Notare“ sind im Spiel, ich sitze vor der riesigen Bühne einer gigantischen Tragikomödie. Und ich fürchte fast, dass die Cité Paysan, wie die neue Siedlung in Gressier heisst, nicht der einzige Ort mit diesem Problem ist. Ich fürchte vielmehr, dass solche Zustände im ganzen Land „normal“ sind und die Verpflichtung Kanadas, aus Haïti einen Rechtsstaat zu machen, nicht eben erleichtern werden.
Der Staat müsste sehr viel Geld zurückzahlen, aber wie kann er das ? Wurden doch die Wirren ausgelöst, weil er mehr Geld brauchte für seine Verpflichtungen ? Und nicht an die armen Bauern dachte, denen das Land zwar auch nicht gehörte, die es aber immerhin aus Gewohnheitsrecht seit Jahrhunderten bewirtschaften ?
Zum Glück organisieren sie sich jetzt, zwar etwas spät. Sie wollen fortan jeden Samstag manifestieren. Ein erstes Haus ist unter Dach, zwei weitere wurden soeben begonnen. Einige Bauern sprechen von Gewalt, wollen die begonnenen Häuser demolieren, die Köpfe der Landschaftsschänder abschneiden. Gegenreaktionen der geprellten „Landbsitzer“ werden nicht lange auf sich warten lassen. Das würde Polizei und Blauhelme einbinden, das wäre nicht gut. Aber es steht für die Wut, die in vielen steckt.
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