Gerüchte um Kannibalismus in Haiti► Seite 2

Kannibalenkochtopf

Datum: 25. Juni 2011
Uhrzeit: 00:57 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
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Ich weiss nicht, was man dazu sagen soll. Die Polizei interessiert sich nicht für solche Fälle, da Vaudou ja Staatsreligion sei, und niemand weiss, wie Iurisprudenz und Gericht damit umgehen sollen. „Gericht“ hat hier einen mehrfachen Sinn, einen iuristischen, einen kulinarischen und wer weiss, vielleicht einen lukrativen. Wofür das kulinarische Gericht gut sein soll, ist auch nicht klar. Ein religiöses Opfer, die vermeintliche Übertragung von Kräften, Eigenschaften oder Fähigkeiten? Hat das mit Macht oder Sexualität zu tun? Ob die Geschichten stimmen oder nicht – zum Lachen sind sie jedenfalls nicht, und jedermann scheint daran zu glauben. Zweifel oder Ungläubigkeit zu äussern würde die Gläubigen nur brüskieren oder sogar provozieren, und Ungläubige gibt es offensichtlich keine. Übrigens auch nicht in den höchsten Etagen, wie ähnliche Geschichten in der Vergangenheit bewiesen.

Mein Nachbar der Houngan ist sonst eigentlich ein eher ruhiger Geselle. Hie und da bekomme ich seine unheimlichen, nächtlichen Zeremonien mit, die stets in völliger Dunkelheit erfolgen und von merkwürdigsten Geräuschen begleitet sind. Nach den Dunkelstimmen zu schliessen, müssen sich da viele Gläubige beteiligen. Ich frage mich immer wieder, wo die denn Platz finden in der kleinen, Peristyl genannten Wellblech-Hütte. Nach Weihnacht finden hier phantastische Trommelkonzerte statt, du glaubst nicht, was einem die kunstvoll gespielten, gestrichenen und fibrierenden Handtrommeln spannend erzählen können – jeweils eine ganze Nacht hindurch, ohne das geringste Licht. Diese fibrierenden Trommeln haben mich zum Schreiben meines dritten Buches („Märchen aus der Vaudou-Trommel“) angeregt; ich kann den Konzerten nächtelang durchlauschen und die entfachten Fantasien ausdeuten. Besonders eindrücklich ist jedoch sein Rara an Ostern, wenn er in der in blauem Samt eingehüllten Zombie-Kiste eine gefangene Seele mit Reliquien Verstorbener umherträgt und in einer Quartierprozession vorführt (siehe Bilder 5 & 6).

Die Versammlungen in den Peristylen werden „Societe“ genannt und sind potenter als jeder Diktator, Präsident oder die ganze „Regierung“. Dergleichen fürchten sich auch vor den Societe (kein Fehler, es gibt keinen Plural). Sie sind es, die vor 200 Jahren den Sieg über die Kolonialmächte ermöglicht haben.

Vor dem unheimlichen Nachbarn hat man mehr Angst als vor dem Leibhaftigen. Viele glauben, dass die Houngans für die Verbreitung der Cholera und anderer Krankheiten zuständig seien. Es gab auch Kampagnen, in denen für jeden getöteten Houngan 100 US$ angeboten wurden. Ähnliche Vorfälle sind aus allen Ländern bekannt und haben mit Haïti nichts zu tun, sondern vielmehr mit dem Tier, das halt gelegentliche Rückfälle in seiner Entwicklungsgeschichte zu erleiden hat. Etwa bis auf die Stufe gewisser Fische, die nach dem Ausschlüpfen ihre eigenen Babys verspeisen. Oder sogar auf die Stufe gewisser Insekten, bei denen nach der Begattung die Weibchen ihre Männchen auffressen. Es gibt Ähnliches sogar bei der Krone der Schöpfung, die solches Verhalten wegleugnet oder mit religiösen Motiven rechtfertigt.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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