Nur der Himmel stürzt nicht ein

Das_Event

Datum: 26. Januar 2010
Uhrzeit: 09:45 Uhr
Leserecho: 1 Kommentar
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Januar der Dreizehnte, 06 Uhr. Das Datum passt. Die Schreckensnacht ist dem Tag der Erkenntnis gewichen, die ist NOCH schrecklicher. Es war gestern 17 Uhr, sehr plötzlich hat es gedonnert und gerüttelt, man brauchte kein Seismograph zu sein um zu merken was los war. Ich hatte schon manches Erdbeben erlebt, aber noch nie so eines. Noch während das Haus bebte, die Mauern um etliche Winkelgrade hin und hertanzten, Flachbildschirm und andere Geräte zu Boden sausten, Vasen und Flaschen um meinen Kopf flogen und zerscherbelten, packte ich meine Geld-, Papier- und Schlüsselbörse sowie den in Betrieb befindlichen Laptop unter den Arm und sauste aus dem 2.Stock treppab ins Freie, zum Glück unversehrt. Das dritte Stockwerk war eben am herunterkrachen, Abstand, Abstand halten!

Ein Blick talwärts zeigte dass die Zweimillionen-Agglomeration Port-au-Prince unter einer braunen Staubwolke verschwunden war. Auch der nahe Vorort Pétion-Ville lag unter einer Staubglocke, kein Haus war mehr sichtbar. Blocksteine und anderes flogen durch die Luft, ich war nicht allein, der in „Deckung“ rannte. Deckung ist zwar der falsche Begriff, denn das hieß in diesem Fall freien Himmel, nur der stürzt nicht ein. Wir rotteten uns auf dem obersten Platz der Montagnes Noires, der Schwarzen Berge zusammen, die Frauen richteten ein Nest mit einigen Decken her, es nachtete schon. Das starke Beben dauerte minutenlang, es folgten kleinere Erschütterungen die nicht mehr aufhören wollten. Es war ein Bauplatz, die einzige ebene Fläche, wo sich alle Einwohner des Quartiers einfanden. Man brachte Verletzte, die man bereits aus fallenden Mauern ausgegraben hatte. Wir verbrachten die Nacht schlecht und recht auf dem nackten, steinigen Boden, es war ordentlich hart, und für mich ein Gefühl die Grenze erreicht zu haben.

Auf dem Boden liegend war der Körperkontakt mit dem Anstehenden so innig, dass ich die Nachbeben gut spürte, die während der ganzen Nacht rüttelten. Man hatte das Gefühl, eine Kinderschaukel zu reiten. Einzelne trugen ein batteriebetriebenes Taschenradio bei sich, das fetzenweise schaurige Informationen lieferte. Parlament und Kathedrale seien zerstört, das Lyceum in Pétion-Ville eingestürzt, während hunderte von Studenten im Innern gelernt hatten, oder das größte Einkaufszentrum „Caribéenne“ sei eingestürzt, es seien hunderte von Menschen begraben. Zwei Pfarrer hatten in der örtlichen Kirche Zuflucht gesucht und gebetet, während die Kirchendecke einstürzte und sie tötete. Neben Teilen des Nationalpalasts sind Ministerien und andere öffentliche Gebäude eingekracht, und auch die meisten Mitglieder der Regierung seien getötet. Im Nobelhotel Montana seien von 300 Verschütteten noch 100 Gäste überfällig; die anreisenden Journalisten und Spezialisten werden es schwer haben, eine Unterkunft zu finden. Hier pflegte der UN-General und wichtige Häupter ihre Sitzungen abzuhalten. Auch das Spital sei schwer betroffen, die übrigbleibenden Betten überfüllt – dies übrigens in allen Spitälern. Auf unserem Fluchtplatz wurde gebetet, Gottesdienste abgehalten, gesungen und geschrien, geschrien von Verwundeten, von Bébés und Kindern, von Verlierern, von Erschreckten, es war chaotisch. Selbst Hunde knurrten und kläfften, sie suchten Berührungsnähe von Menschen, selbst unbekannten, sie trugen die Rute tief eingeklemmt zwischen den Beinen, als Zeichen ihrer Angst.

Noch in der Nacht rief meine Tochter aus Paris an. Sie war in Panik und wollte wissen, ob Papa wohlauf sei, und sie erzählte mir was ich noch nicht wusste. Das Fernsehen berichte pausenlos über die Katastrophe. Auch Sie, liebe Leser, haben wohl aus den Medien die besseren Informationen als wir, die Betroffenen. Das ist eben so in der Informationsgesellschaft. Kurz darauf wollte die Schweizer Botschaft wissen, ob ich noch lebe. Es waren die letzten Anrufe, die durchkamen, ein Wunder. Aber dann war Funkstille, jeder in- und ausländische Telefonkontakt war abgestellt. Morgens um 5 gab die Regierung über Radio End Alarm, – voreilig! – und kolonnenweise suchen die Anwohner ihr Haus. Das erste war für mich der Internetanschluss, aber der funzte nicht, die Störung lag außerhalb. Vielleicht eine Antenne oder ein Durchgangscomputer demoliert, oder das Haus der Provider stand nicht mehr. Dann konnte auch eMail, Facebook, Internet und andere Verbindungsmittel für lange Zeit ausfallen, allenfalls auch in der Dominikanischen Republik und Kuba, denn unterdessen hat man gehört, das Erdbeben sei international.

So schreibe ich diese Kolumne offline, und hoffe, sie dann später aufs Netz überspielen zu können, mit noch unbekannter Verspätung. Aber noch ist es nicht so weit. Die Luft ist erfüllt von grauenhaften Schreien. Geschrei von Verletzten, von Menschen die ihre Lieben verloren haben, ihr Haus oder Hab und Gut. Menschen laufen in Panik umher, schreien Sprüche über Jesus der zurückgekommen sei, über den Jüngsten Tag der nun gekommen sei, man solle keine Angst haben sondern Freude, nun sei alles gut, doch alle haben Panik. Man schleppt Schwerverletzte herauf, die eine oder andere Leiche eines wiedergefundenen Familienmitglieds.

In endlosen Einerkolonnen sind die Voyeure unterwegs, die auf allen Wegen zur Stadt hinunter zu eilen versuchen, um zu sehen, was es zu sehen gab. Sie werden irgendwo im selbstgebauten Chaos stecken bleiben, die Stadt nie erreichen. Aus der Luft wird die schaurige Geräuschkulisse ergänzt durch das Geknatter der Helikopter, die pausenlos aufsteigen in den werdenden Tag, um zu erkunden wie es überall steht, und was noch steht, und wie und wo zuerst geholfen werden muss. Und jetzt die Aufforderung aus dem Radio, das einzige was noch funzt, die Häuser bis zum Nachmittag wieder zu verlassen, es drohen neue Stöße… Und neue Schreckensnachrichten. Ein Tsunami hätte gewütet und das Meer steigen lassen, überlebende Küstenanrainer sind zu Fluss in die Berge geflohen. 100 Meter weiter unten, jenseits des Wildbachtobels wo die Autopiste endet und karge Parkplätze für die paar motorisierten Dorfbewohner liegen, hat sich eine Menschenmenge eingefunden. Es seien die Fischer und andere, die ihre Heimstätten wegen des gestiegenen Meeres hätten verlassen müssen. Auch wir verbringen den Tag wieder im „Nest“, das über Nacht notdürftig abgedeckt wird. Zum Glück, denn zu alldem beginnt es jetzt auch noch zu regnen. Das Radio berichtet, es seien Spezialequipen angekommen, die dem Schweizer Katastrophenhilfskorps entsprechen, zwei aus den USA und eine aus Kanada.

Die ganze Nacht über hört man das Surren von Grosshelikoptern, die offenbar lange Zeit am gleichen Ort in der Luft „stehen“ bleiben, wohl um größere Hausteile von den Opfern wegzuhieven, oder das periodische Rattern von Pressluftbohrern, mit denen wahrscheinlich Verschüttete freigebohrt werden. Im übrigen entspricht die Geräuschkulisse der der vorherigen Nacht, das Liegen auf der harten Unterlage macht mir mit meiner Arthritis, trotzdem die Einheimischen alles beigesteuert haben, um mir die Unterlage zu „erweichen“, noch mehr Mühe und ist kaum mehr auszuhalten. Man hört von den Schäden an Betonvillen der Reichen, die seien teilweise ausgezogen, um ein Lager mit Einheimischen zu teilen. Jemand bemerkt spöttisch: jetzt seien es die Armen, welche die gierigen Mäuler der Reichen füttern…

Photo ©: Otto Hegnauer/latina-press

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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