16. Januar 2010, die vierte Himmelsnacht ist überstanden, vermeintlich die letzte. Denn gemäß dem knapp ergatterten Radiovortrag eines Seismologen ist die Gefahr eines starken Bebens, dieses hatte immerhin 7.8 Punkte erreicht, für 150 Jahre vorüber, „mit 80 % Wahrscheinlichkeit“. Immerhin, das zweite Telefon meiner Tochter aus Paris kommt durch, noch sind alle Leitungen geschlossen. Sie beschwört mich, nach Europa zu kommen, aber das ist leichter gesagt als getan. Die meisten Straßen sind von Trümmern und Leichen blockiert, Tankstellen gibt es keine mehr, Rettungs- und Militärfahrzeuge haben ihre eigenen Quellen.
Der zivile Flugverkehr ist eingestellt, Tausende von Ausreisewilligen blockieren das Umfeld. Ausländer können das Land ausnahmsweise mit Rettungsflugzeugen verlassen. Doch wie kommen sie auf den Flugplatz? Das Durchqueren der Stadt ist verboten, es herrsche extreme Seuchengefahr. und über mir beobachte ich neue Luftstraßen, nach Santo Domingo und mit S-Kurve zum normalen Shortfinal ( Landeanflug ) hinüber nach „PAP“. Die Sicherheitsabstände der landenden Flugzeuge sind stark verkürzt, Flugzeuge landen manchmal zu zweit nebeneinander, oder knapp hintereinander und sich kurz vor Aufsetzen in den Normalanflug einordnend. Offensichtlich gelten die Regeln des Luftverkehrs nicht mehr. Am Radio wird gemeldet, es landen bis zu 1300 Maschinen pro Tag, ohne die Helikopter, der überlastete Flughafen sei von den Amerikanern besetzt worden, die hätten das Kommando über den Flugplatz übernommen. Auf der riesigen Piste hat zwar schon etwa mal eine Concorde oder Herkules landen können, aber es gibt keinen Rollweg, das An- und Zurückrollen muss per Backtrack erfolgen, also auf der einzigen Start- und Landepiste. Nur die Ami-Piloten sind solche Spiele gewöhnt.
Parlament und die meisten Regierungsgebäude bestehen nicht mehr, von der Regierung sind kaum noch 1/3 vorhanden. Überlebende Politiker werden auf den Flughafen gebeten, dort ist der neue Sitz der Regierung. Ich stelle mir vor, wie ein ermatteter Bill Clinton neben einer kaum benützten Luftmatratze im Tower sitzt und sich einen Kaffee nach dem andern hinunterstülpt, daneben der haïtianische Präsident René Préval nebst diversen amerikanischen Ex-Präsidenten. Selbst George W.Bush soll sich hier rumtreiben; was der hier allerdings sucht, ist mir schleierhaft. Etwa ein schlechtes Gewissen wieder gut machen?
Und die Erdstöße wollen nicht aufhören. Die „80 % Wahrscheinlichkeit“ des Seismologen lassen eben immer noch 20% übrig, und das genügt. Ich kann jetzt nicht mehr sagen, keine Angst zu kennen, man weiß ja nicht, was der nächste Stoß wieder bringt. Und Unkenntnis bringt Angst. Alle hier haben Angst, sogar panische. Es gibt noch Strom von den letzten Batterien, die lassen ein Radio scheppern. Man hört, eine Schule nach der andern sei eingestürzt, jedesmal 600, 800, 900 Kinder begrabend. Es müssen Tausende sein. Auch die Universität, dort seien hunderte von Studenten getötet.
Bald gehen die letzten Batterien aus. Die Medien schweigen. Nur noch Erdstöße, jetzt lernen wir Richtergrade schätzen, vier bis sechs. Man lernt nie aus.
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