Kolibri in Haiti

Datum: 08. Januar 2012
Uhrzeit: 11:18 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Heute habe ich seit dem Erdbeben, das vor 2 Jahren Haïti durchrüttelte und die Welt erschütterte, wieder den ersten Kolibri gesehen. Ich stand vor dem Ostfenster, wo ein paar Drähte absteilen, die Schlucht von Lakou-mango überbrücken und gegen die „Strom-Quelle“ verschwinden, zur Brücke, wo die Leitung der Elektrizitätswerke aufhört. Jetzt schon meistens mit Strom, früher manchmal ganz lange ohne. Einer dieser Fäden bringt mir den Strom zum Internet, zum Nabel der Welt, zur Unterstützung der Solarpanels und anderer Notbehelfe.

Wenige Meter davor sitzt ein Winzling auf dem Draht, kaum grösser als eine Hummel, Auge in Auge sitzen wir uns gebannt gegenüber. Ich kann gar nicht ausmachen, wer von uns beiden den andern hypnotisiert, denn regungslos starren wir uns an und können unseren Blick nicht mehr lösen. Ich, weil es der erste Kolibri ist, den ich seit dem Weltbeben wieder erspähe- und er, weil er verwundert ist und noch nie einen so unbeweglichen Menschen gesehen hat. Er ist offensichtlich im Zweifel, was diese erstarrte Puppe überhaupt ist, und damit gleich weit wie ich: es ging nämlich eine schöne Weile bis ich gemerkt hatte, dass das kleine Bündel so nah gegenüber auf dem Draht ein lebender Kolibri und kein ausgestopfter Zombie war.

Ich hatte natürlich genügend Erfahrung um zu wissen, wie man ein verwundertes Tierchen noch mehr in Bann versetzt, statt es zu verscheuchen. So starrten wir uns beide regungslos in die Augen. Ich hatte im Sinn, so lange auszuharren, bis ihm als erstem die Geduld ausgehen würde. Indessen habe ich genug Zeit, etwas von meinen früheren Kolibris zu erzählen.

In Gresye hatte ich bekanntlich mein Märchenhaus, da schwebten mir die Helikopter direkt vor die Haustür. Nicht für mich und nicht mit lautem Geknatter, sondern lautlos und für die meisten unsichtbar. Mini-Helikopter der Natur, ohne technisches Brimborium, aber sie konnten sekunden-, manchmal auch minutenlang an einem fiktiven Punkt in der Luft stehen bleiben, sie kannten die Thermik und was man mit ihr macht, die Vibrationen ihrer Flügelchen erzeugten einen ungeheuren Auftrieb, und sie waren so rasch, dass man nichts sah und auch nichts hörte von ihrem Treiben, sie waren über unsere menschlichen Helikopter und unsere Sinne erhaben.

Die Winzlinge waren kaum grösser als Hummeln, die machten einen wesentlich grösseren Krach. Die Kolinbris zuckten von einer Blüte zur andern, blieben davor in der Luft stehen und steckten ihren langen Schnabel blitzschnell und gezielt hinein, fast wie wir Weissen die Nase, die wir so gerne überall rein stecken.

Manchmal schillerten sie in den Farben des Karnavals oder des Regenbogens, die Gesänge waren auch prachtvoll, aber sie kamen von anderen Musikanten. Ich habe nie rausgefunden, ob Kolibris überhaupt singen können. Aber für mich war es erhebend zu erleben, dass es in Haïti auch echte Glücksbringer gibt, nicht nur Absteller. Da fühltest auch du dich glücklich, wenn du es nicht schon warst.

Höhepunkte sind meistens kurz. Manchmal zu kurz zum Erleben, und zu kurz für unser Leben. Ein Höhepunkt in meinem Leben war, eines Morgens das Nestchen zu entdecken, das meine Kolibris gezaubert hatten, ausgerechnet vor der Haustür. In Steinwurfweite ist untertrieben, es waren keine zwei Meter. Die Haustür war der Hauptzugang zu meinem Reich, die wurde natürlich unverzüglich mit einem „absoluten Fahrverbot“ belegt, und das galt für jedermann , du weisst ja, wie sehr ich Verbote sonst liebe. Unterhalb der kleinen Treppe, die zur Haustür führte, wurde mit einem dicken Seil abgesperrt.

Die Haustür war eine Drahtglas-Antikorodal-Konstruktion, ein seinerzeitiges Werk von Klaus, Haïtianer konnten damals mit so einem Ding noch nicht umgehen. Jedermann musste mit einer Umleitung vorlieb nehmen. Über den Hintereingang, der war auch in Drahtglas-Antikorodal-Manier aus Schlaraffenland importiert, oder über die Bogengalerie auf der wuchtigen Terrasse.

Die geöffnete Haustür wurde fortan mein Ansitz (Beobachtungs-Schlupfloch). Am ersten Busch vor der Tür hatten meine schillernden Kolibris, es schienen Vertreter des Regenbogens zu sein, ein faustgrosses, kugeliges Nestchen aufgehängt, das sachte im Winde wiegte. Der Eingang war unten, und von unten her schlüpften die Flugkünstler zu ihren Jungen, die ich nie gesehen hatte, und stopften wohl ihre hungrigen Schnäbelchen. Dieses Schauspiel durfte ich hundertmal geniessen und später, wie die Mini-Vögelchen vor dem Einfliegen und auch vor Blüten benachbarter Büsche in der Luft zu schweben pflegten. Zum Fotografieren undenkbar, diesmal wusste nicht einmal ich alter Tierknipser einen Trick. Aber wie ich schon geschrieben habe – je umwerfender die Höhepunkte, desto kürzer ihr Genuss. Das ist so im Leben, und war auch hier nicht anders.

Zurück zum Wiedersehen auf der Bergburg. Der Bergburg-Kolibri trug einen blauschwarzen Frack und einen ausnehmend langen, gekrümmten Säbelschnabel. Er begann sich offenbar, langsam zu bewegen, und nahm von mir keine Notiz mehr. Jetzt hiess es natürlich erst recht, still zu halten, denn ich wollte nicht riskieren, das Weihnachtsvögelchen noch zu erschrecken. Aber offensichtlich war ich nicht mehr interessant, das Dingchen räkelte und schüttelte sich ein wenig, wendete seinen Blick von mir ab und beäugte sein Gefieder, das es bezupfte, aber der Schnabel war fast zu lang dazu. So streckte es nochmals seine Flügelchen aus, wie eine Spitzensprinterin vor dem Start, und wupp – verschwunden. Für wie lange wohl?

Aber für mich war das Erlebnis das schönstmögliche Weihnachtsgeschenk gewesen, voller Symbolik – bedeutete es doch die Wiederauferstehung eines haïtischen Wunderlandes, das vor zwei Jahren unter die Trümmer geriet und niemand mehr an eine Auferstehung glaubte.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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