Prioritäten der Schulen in Haiti

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Datum: 08. April 2010
Uhrzeit: 07:01 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

In der Stadt haben die Schulen wieder begonnen, die noch bestehen, einige im Zelt. Das Schulsystem im Lande war schon mürbe und steinzeitlich, bevor es wackelte und dann zusammenfiel. Auf dem Land muss es erst noch anlaufen. Es gibt Schulen und „Schulen“, Lehrer und „Lehrer“ ( die weibliche Form natürlich eingeschlossen ), ich will nicht verallgemeinern. Nichtsdestotrotz: Unvorstellbar die Verhältnisse in der Stadt, und erst recht in der Provinz, auf einer Insel, in abgelegenem Bergland. Das Zusammensein in viel zu großen Gruppen, ich habe Klassen von 60 und sogar 100 Schülern gesehen, stellte seine Anforderungen an Führung und Stil, Lehrer und Nachbarn waren zu respektieren, Disziplin war hoch im Kurs, schien mir aber oft das einzige, was in den Schulen erreicht werden konnte. Erreicht mit untauglichen Mitteln, Prügelstrafe und so. Sauberkeit in Ehren, aber es schien mir, in den Schulen hätten Uniform und Fahnen die erste Priorität. Motivation war ein Luxus.

Die Schulen waren morsch, morbid sind sie auch hier in der „entwickelten“ Welt… Für Haiti, das sich die Karibikinsel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, sprach ich in der Vergangenheit, weil es jetzt kaum welche mehr gibt. Mit Ausnahmen. Diese hoffnungslose Situation hat, wie alles, auch einen Vorteil. In Haiti besteht die Gelegenheit, neu zu beginnen, alles besser zu machen, die Frage nach den Prioritäten neu zu stellen. Aber welches sind denn die Prioritäten, was ist am wichtigsten? Das ist immer die erste Frage, eben die wichtigste. Die Frage, die man sich zuerst stellen muss. In Bezug auf eine Aufgabe, ein Ziel, nicht nur in der Schule. Um ein Problem zu lösen, um sich zu unterhalten, um glücklich zu sein, oder um zu überleben. Oder eben um Schüler auszubilden. Das waren sie übrigens bereits, die Prioritäten.

Die Schüler und Lehrer müssen auch lernen, sich diese Frage zu stellen. Sie kennen nur die Alphabetisation, Lesen und Schreiben, als Priorität der Schule. Auch der Staat, der vor dem Beben ein eigenes Amt dafür unterhielt, kennt nur diese Priorität. Lesen und Schreiben in Ehren, aber das ist nicht das einzige. Und auch das, wie kann eine Schule das lehren, wenn die meisten Lehrer selber nicht einmal lesen und schreiben können. So habe ich es wenigstens gehört, und ich habe genug gelernt, solche Gerüchte ernst zu nehmen. Natürlich würden mich jetzt meine Lehrer-Freunde gleich wieder lynchen, oder als notorischer Schlechtmacher ihres Landes darstellen. Wenn sie lesen und erst noch deutsch könnten. Auch das muss man verzeihen können, sie haben ja nie eine rechte Ausbildung genossen, und das gekaufte Lehrerpatent hängt nur zum Schein, an der Wand.

Öfters schickten mir während meiner Arbeit Universitäten ihre Studenten ins Praktikum. Da konnten sie ja was lernen, eben aus der Praxis, nicht aus der Schule. Die Studenten pflegten zuerst im Computer zu wühlen – das konnte man, auch wenn es Internet noch nicht gab. Dafür gab es Arpanet und andere Steinzeitdinge. Da konnte man, mit viel Arbeit und Glück, herausfinden, was andere in der Vergangenheit darüber herausgefunden und geschrieben hatten. Das war vielleicht interessant, aber längst überholt, schade um die Zeit.

Raus mit euch, an die „Front“, Feuerwehr braucht es wo es brennt. Dort die brennendsten Herde entdecken, und nicht zu lang hirnen (überlegen), vordringlich zu löschen versuchen. Erst dann muss und kann man verbessern. Einige haben das begriffen. Ich sehe das an den guten Posten, die sie bekleiden, die oft im Fernsehen publiziert sind. Ach nein, die Universitäten waren (sind???) auch nicht besser, auch nicht bei uns, in der Schweiz.

Und in der Praxis, im Unternehmen ? Meine Kollegen waren Perfektionisten. Ihnen fehlte der Mut zur Unvollkommenheit, nichts war ihnen gut genug. Ihre Projekte waren perfekt und vollendet, wenn man sie nicht mehr brauchte. Mit genug Zeit lösen sich die Probleme von selber. Ich meine, man soll möglichst rasch hirnen und dann mal handeln, dann kann man verbessern aufgrund der Erfahrungen. Wie einst der Fluglehrer sagte: nicht mehrere Aktionen ausführen, nur eine einzige, aber rasch und präzis, und dann beobachten was passiert. Und erst dann korrigieren.

Ganz sicher hat nationalistisches Chorplappern und Singen wie es in Schulen – nicht nur in Koranschulen und nicht nur in Haiti – praktiziert wird, keine Priorität. Auch die Palmwedel- und fahnenschwingenden Umzüge sollten keinen Platz im Schulprogramm finden, es gibt bessere Mittel für Motivation. Stolz und Angeberei wird hochgezüchtet bis über den Tod hinaus, nicht nur in Schulen. Man denke nur an die Totenhäuser, die pompöser sind als die Häuser der Lebenden. Sicher muss in der Schule die Volkskultur respektiert und gepflegt werden, aber nicht blindlings, sondern kritisch hinterfragt. Und mit Toleranz gegenüber Andersartigem.

Dazu gehört auch die Flexibilität. Nichts gilt ewig oder auch nur lebenslänglich, schon gar nicht ein Beruf, eine Regel, oder was man sonst noch heilig hält. Für mich eine hohe Priorität haben die sprachlichen Fähigkeiten, die sich sowohl auf Fremd- wie auf Muttersprache beziehen, sowohl auf mündlichen als auch auf schriftlichen Ausdruck. Orthografie in der Fremd- wie in der Muttersprache ist ein absolutes Muss, da in der Welt der Computer und Formulare jeder verloren ist, der bei einer Manipulation auch nur einen Punkt oder einen Zwischenraum falsch setzt. Das Erlernen des Umgangs mit Tastaturen wird richtigerweise schon auf der Unterstufe geübt, aber den Umgang wie mit Schreibmaschinen-Tastaturen halte ich für verfehlt. Man stelle sich vor, was beim üblicherweise erlernten Blindschreiben bei einem Tastaturwechsel geschehen muss, etwa deutsch oder deutsch-schweizerisch.

Rechnen können ist zwar wichtig, aber Schätzen ist noch bedeutender. Denn jeder ( lebende ) Rechner sollte imstande sein, abzuschätzen ob ein Ergebnis überhaupt stimmen kann, oder zum voraus abschätzen, was das Resultat in etwa sein könnte. Handwerkliche Disziplinen, Hygiene und Unfallschutz müssen schon früh in der Schule geübt werden. Die Kinder müssen doch fähig sein, sich zu ernähren und zu überleben.

Musische, sportliche und andere Fächer sind schön und gut, wenn sie Eu- oder keinen Stress erzeugen. Wenn sie aber zu Distress (Eustress=positive, Distress=negative Spannung) führen, etwa durch Leistungsdruck wegen Gefahr schlechter Noten, lässt man sie besser bleiben. Auch wegen der Bestressung der Lehrer bei den in Haiti nötigen Zwei- und Dreischicht-Betrieben muss man sich sehr gut überlegen, ob man all die Fächer auf die Schüler loslassen soll. Aber ich bin kein Schulreformator, doch es wäre an der Zeit, solche einzufliegen.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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