Es ist wie ein Gedicht, so schön dass es kaum wahr sein kann. Ähnlich wie während meiner Seminarzeit vor 60 Jahren, als ich verbotenerweise in der Klosterkirche Wettingen im Schlafsack biwakiert hatte, um frühmorgens an einem Orgelkonzert zu erwachen, durfte ich diesen Morgen wohl gegen vier an Traumklängen zu mir kommen. Im Nebenzimmer, nur durch eine hauchdünne Holztür getrennt, liegt die immer noch kranke Melissa mit ihrer vierjährigen Aude, beide soeben aus den Spitälern entlassen und „zuhause pflegeberechtigt“.
Die Bekannt- und Nachbarschaft hat sich eingefunden, in dem kleinen Zimmer eingezwängt und summt leise und fein herrliche Weisen, unterbrochen von Gebeten, zarten Sprechchören, gelegentlichen schrillen Schreien und exotischen Naturlauten, deren Bedeutung ich nicht ergründen kann. Das Repertoire an Lauten scheint unerschöpflich, neben reichmoduliertem ekstatisch-gutturalem Schreien werden auch Instrumente zum Erzeugen von Tönen eingesetzt, Klatschen, Stampfen, Schlagen mit Hölzern in unerschöpflicher Artikulation, Pianopianissimi wechseln mit Fortefortissimi, einzelne Ausrufer mit antwortenden Chören. Das ist tiefstes Ur-Afrika, wie ich es kaum je erlebt hatte, wenn die manchmal verständlichen christlichen Worte nicht wären, reine Zauberei und Magie. Spannend und aufwühlend, und so geht es einige Tage lang, jeden Tag. Gesprochen wird nichts, es ist wohltuend still wie in einer Kirche. So zu erwachen, erinnert mich an mein damaliges Orgelerlebnis in Wettingen, und nach so einem „Erwach-Erlebnis“ ist man selbst den ganzen Tag ruhig und glücklich.
Das dauert seine paar Tage, meist von früh bis spät, ich bedaure, wenn das „Gesundsingen“ oder vielleicht eher der Dankgottesdienst für das schon wieder knapp verpasste Sterben von Melissa und Aude vorbei ist. Ich glaube jetzt, nachdem ich die Wirkung an mir selbst verspüren durfte, an den beruhigenden, heilenden, beglückenden Einfluss auf die „Rezipienten“, vor allem die Genesende. Und das ohne jegliche Religiosität, einfach über die Seelenstimmung. Das Ganze ist nicht Christentum, es ist Zauber. Aber er hilft! Fast wäre ich geneigt, die „Gesundsinger“ eher „Glückssinger“ zu nennen.
Ein Glücksbringer auch das, was das obenstehende Foto zeigt. Es zeigt ein Kreuz mit einer überreichen Geschichte, die jetzt wohl zu Ende, oder mindestens unterbrochen ist. Wie in Der Raubritter als Münzensammler beschrieben, haben es die Archäologen in der Aargauer Trostburg aus dem 12. Jahrhundert ausgegraben. Der damalige Burgeigentümer, ein einstiger Zürcher Stadtpräsident, schenkte mir den „Nonvaleur“ zur Erinnerung, und natürlich betreffen diese Erinnerungen all meine Teufenthaler Jahre als Lehrer. Im Zentrum des zinnernen Kreuzchens ist eine karolingische Münze eingegossen. Die dortigen Ritter waren Numismatiker. Sie präsentierten das Schatzstück liebevoll eingegossen in einem Zinnkreuz, und das landete zuerst in meiner Sammlung von Altertümern in der Schweiz und schließlich in Haiti. Dass es am 12.Januar 2010 zusammen mit vielen anderen Antiquitäten erneut unter die Erde kam, ist eine traurige Tatsache, und ob es je zum zweiten mal ausgegraben wird, weiß nur Gott, für den es als Sinnbild steht.
Für Melissa war das Kreuzlein ein einseitiges Symbol des Katholizismus, doch ihre Familie besteht aus überzeugten Protestanten, und die glauben, ohne Kreuz lebe sich besser. Ich denke da freier als gewisse Schulen und Staaten, die solche Symbole missdeuten und verbieten. Für mich ist das Kleinod nicht nur ein Symbol christlichen Glaubens, sondern eines für Göttlichkeit schlechthin, und ein Metapher für die Macht der Glaubens- und Lebenskraft überhaupt. Für alles das, was Haiti jetzt braucht!
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