Was ist mit der „fehlenden Mitte“ Lateinamerikas passiert?

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Trotz Reforminitiativen und Armutsbekämpfung ringen die Volkswirtschaften der Region (Foto: Defesa)

Lateinamerika, einst eine der wohlhabendsten aufstrebenden Marktregionen der Welt, droht aufgrund ihres schleppenden und ungleichmäßig verteilten Wachstums von ihren Mitbewerbern überholt zu werden. Um dieses Muster zu durchbrechen und das Wachstum dynamischer und integrativer zu gestalten, müssen die lateinamerikanischen Volkswirtschaften zwei „fehlende Mitten“ füllen: einen Mangel an mittelständischen Unternehmen, die den Wettbewerb fördern können und einen Anstieg mittelständischer Verbraucher, deren Ausgaben die dringend benötigte Nachfrage erzeugen könnten. Um beide Anforderungen zu erfüllen ist es entscheidend, die Leistungsfähigkeit neuer digitaler Technologien zu nutzen.

Trotz Reforminitiativen und Armutsbekämpfung ringen die Volkswirtschaften der Region. Das BIP-Wachstum in der Region betrug zwischen 2000 und 2016 durchschnittlich nur 2,8 Prozent pro Jahr und lag damit weit unter dem Durchschnitt von 4,8 Prozent in 56 anderen Schwellenländern. Darüber hinaus trug der Anstieg der Erwerbsbevölkerung in diesem Zeitraum 72 Prozent zum Wachstum Lateinamerikas bei. Wenn die Geburtenraten sinken, muss die Region die Produktivität erhöhen, um dies zu kompensieren.

In Lateinamerika sind zwar einige hochproduktive globale Unternehmen ansässig, es fehlt jedoch das Rückgrat mittelständischer Unternehmen, die Innovation und Wettbewerb fördern und in dynamischeren Volkswirtschaften produktive und gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen. Die Region hat weniger große und mittlere Unternehmen (mit einem Jahresumsatz von mehr als 50 Millionen US-Dollar) als die Türkei, Indien, Südafrika und viele leistungsstarke asiatische Schwellenländer und die vorhandenen sind weit weniger produktiv. Viele lateinamerikanische Volkswirtschaften haben einen langen Schwanz kleiner, oft informeller Unternehmen, die gemeinsam Millionen Menschen beschäftigen – das Wachstum jedoch aufgrund ihrer geringen Produktivität bremsen.

Aufgrund der schwachen Produktivität, die die Löhne niedrig hält, gibt es in Lateinamerika auch zu wenige aufstrebende Verbraucher, deren steigendes verfügbares Einkommen dazu beitragen könnte, Nachfrage und Investitionen nachhaltig zu fördern. Darüber hinaus verringern hohe indirekte Steuern die Kaufkraft der Menschen, indem sie Konsumgüter verteuern. In Brasilien beispielsweise macht die Mehrwertsteuer vierzig Prozent der gesamten Steuerbelastung aus, verglichen mit einem OECD-Durchschnitt von 32 Prozent. Auch die Handelshemmnisse der Region halten die lokalen Preise, auch für Lebensmittel, über dem globalen Niveau. In Brasilien werden Autos beispielsweise für mehr als das Doppelte des Preises in den USA verkauft.

Schlimmer noch, wirtschaftlich gefährdete Gruppen können nur begrenzt Kredite aufnehmen und sparen. In Mexiko und Kolumbien hat weniger als die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu einem Bankkonto und der Mangel an Verbraucherkrediten in der gesamten Region wirkt sich erheblich auf die Konsummuster aus. Infolgedessen entfallen auf die untersten neunzig Prozent der lateinamerikanischen Haushalte nur 64 Prozent des Inlandsverbrauchs – der niedrigste Anteil aller Regionen der Welt. Heute leben mehr als 150 Millionen Menschen in Lateinamerika (über 60 Prozent davon in Brasilien, Kolumbien und Mexiko) von 5 bis 11 US-Dollar pro Tag. Sie können sich daher nicht mehr als das Nötigste leisten und laufen Gefahr, wieder in Armut zu geraten.

Der Mangel an Verbrauchern aus der Mittelschicht schränkt die Nachfrage und die Wachstumschancen für inländische Unternehmen ein, die in einer modernen Wirtschaft den größten Teil der Arbeitsplätze bieten. Es verzögert auch die Entwicklung komplexerer oder differenzierterer Waren und Dienstleistungen, die typischerweise durch eine höhere Wertschöpfung und Produktivität gekennzeichnet sind. Dieses Gleichgewicht zwischen schwacher Produktivität, geringem Innovationsgrad und begrenzter Produktdifferenzierung erklärt die schleppenden Investitions- und Wachstumsraten Lateinamerikas. Die Region hat jedoch die Chance, ihre Volkswirtschaften durch den Einsatz neuer digitaler Technologien zu beleben, um die Produktivität zu steigern und die „fehlenden Mitten“ zu entwickeln. Um dies zu erreichen, müssen Unternehmen und politische Entscheidungsträger jedoch drei Prioritäten berücksichtigen.

Erstens müssen sie ein wettbewerbsfähiges Geschäftsumfeld schaffen in dem digitale Technologien gedeihen können, Innovationen belohnt und Chancen für alle geschaffen werden. Digitale Tools können mittelständischen Unternehmen dabei helfen, die Produktivitätslücke zu größeren Unternehmen zu schließen und Produkte für die anfälligen Klassen zu entwickeln, indem sie feste Design- und Startkosten senken.

Zweitens können digitalbasierte Geschäftsmodelle die Produktivität, Fähigkeiten und Löhne der Mitarbeiter steigern und die Arbeitnehmer in entlegenen Gemeinden in die übrige Wirtschaft integrieren. Solche Geschäftsmodelle bieten jungen Menschen auch neue Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zu verbessern und sogar um Arbeitsplätze mit Gleichaltrigen in fortgeschrittenen Volkswirtschaften zu konkurrieren.

Drittens können Regierungen digitale Plattformen aktiv nutzen, um effizienter zu werden und bessere, billigere öffentliche Dienste bereitzustellen. Öffentliche Einrichtungen müssen sich darauf konzentrieren, den Status quo zu schützen und zu regulieren, Bürokratie abzubauen, neue Investitionen zu fördern und neue Methoden für die Erbringung von Dienstleistungen zu erproben.

Solche Änderungen könnten die Produktivität und das Wachstum erheblich steigern. Wenn die lateinamerikanischen Volkswirtschaften ihre fehlenden Mittel ausfüllen und verstärken können, könnte das Pro-Kopf-BIP in der Region um mehr als 1.000 US-Dollar pro Jahr steigen und bis 2030 einen schrittweisen Anstieg des BIP um 1 Billion US-Dollar bewirken.

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  1. 1
    Peter Hager

    Ausgezeichneter Artikel, der wichtige Dinge auf den Punkt bringt! Aber, digitalbasierte Geschäftsmodelle im heutigen Lateinamerika? Der richtige Weg wäre das selbstverständlich und lange überfällig. Aber mit welcher Manpower? Vor Jahren hatte ich in Venezuela wie verzweifelt 1-2 Programmierer gesucht, als das Land noch recht gut funktionierte. Da kamen Bewerber, stolz wie Toreros, mit Stapeln voller Diplome. Frag mich bitte niemand, wo sie die her hatten! Nicht einer verstand Englisch, keiner wußte, mit welcher Art von Applikation man einen Programmiercode schreibt. Die Naivität und Dummheit, um nicht zu sagen, Unverschämtheit, sich ohne die aller primitivsten Grundlagen für einen solchen Job zu bewerben, raubte mir schlicht den Atem. Doch ich konnte diesen Typen nicht mal böse sein. Ich kannte ja ihr Umfeld. – Sicher gibt es auch qualifizierte Leute. Aber die sind alle längst vergeben oder sie betreiben ihre eigene Firma, zumeist im Ausland.

    Was fehlt ist vor allem ein Bildungssystem, das dem internationalen Standard entspricht und trotzdem von den herrschenden Klans akzeptiert wird. Diese werden nämlich auch unter dem Status Quo jedes Jahr immer reicher, ohne ihre sozialen Privilegien mit einer aufsteigenden Mittelschicht teilen zu müssen. Das gilt ganz besonders auch für die sogenannten Linken, die sich nach außen als Vertreter der Arbeiterklasse präsentieren, tatsächlich aber die skrupellosesten Parasiten der Gesellschaft sind. Die oberen Zehntausend kommen mit der aktuellen Kaufkraft des Volkes sehr gut zurecht und wollen zum größten Teil nichts weniger, als ein Heer von Neureichen aus den unteren Schichten.

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