Man kommt um ein Schütteln einfach nicht herum

SOS-1

Datum: 02. Juli 2010
Uhrzeit: 09:42 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Man kommt um ein Schütteln einfach nicht herum, selbst die Gefühle werden durcheinander geschüttelt. Aber diese Dächer, die sind hier so herrlich und praktisch, sie bestehen rundum aus Palmblättern und gewährleisten eine angenehm kühle Temperatur. Niemals würden diese Dächer Menschen erschlagen, bei einem Beben.

Aber in der SOS-Enfants-Schule bei Jacmel, da starren die Dächer aus Beton. Und drohen weitere Kinder totzuschlagen, 220 haben sie schon. Dass hier seit 1995 eine Schule verzweifelt ums Überleben kämpft, damals mit 400 und mehr Schülern, eine Schule für die Ärmsten der Armen, deren Eltern keine Arbeit haben, die sich kein Schulgeld leisten können, habe ich längst geschildert, sogar am Deutschen Fernsehen, und in Artikeln. Heute wollte ich selber mal schauen gehen, und einige Fotos machen. Ich musste zusehen, wie meine Anstrengungen nichts geholfen haben.

Die Helfer haben das Schweizer Lyceum gefunden und es großzügig saniert, dass aber etwas weiter nochmals eine Schule liegt ( es folgen NOCH weitere… ) haben sie wohl übersehen. Der Eingang ist ja auch klein und unscheinbar und kann deshalb übersehen werden. Ich selber habe schon mehrmals versucht, auf diese Schule aufmerksam zu machen, zuletzt Anfang Jahr in Schule im Zelt und Die Heldin Margarette, auch am 8.April bei meinem Auftritt im Deutschen Fernsehen. Hilfe wurde zwar immer wieder versprochen, kam aber bis heute keine.

So musste ich mich überzeugen ( siehe Bild ), dass die Schule immer noch im ( privat bezahlten ) Zelt stattfindet, dass Decken und Wände immer noch einsturzgefährdet sind und beim zum Glück meist schönen Wetter der Unterricht immer noch im Freien stattfindet. Auch wenn es einst 400 und sogar 600 Schüler waren, so sind immerhin noch 280 am Leben geblieben und folgen fleißig und aufmerksam dem täglichen Unterricht. Ich bitte meine Leser – speziell die von Organisationen – eindringlich, auch einmal an SOS Enfants Haiti zu denken und ihr Schicksal etwas zu erleichtern.

Nun aber noch einiges zum Erdbeben selbst, über dessen Auswirkungen auch an der karibischen Küste ich schon das oder jenes geschildert habe. Überwältigend sind jedoch die Schilderungen von Augenzeugen, von denen ich Dutzende interviewen konnte, aus allen Schichten: Lehrer, Hoteliers, Strasseningenieure, Arbeiter – sie alle bezeugen, dass drüben an der karibischen Küste ganz sonderbare Dinge geschahen. Gleichzeitig mit dem Erdbeben vom 12.Januar, und unmittelbar danach. Dinge, die ich kaum glauben, geschweige denn begreifen kann. Soweit MEINE Wenigkeit. Und ob SIE das glauben und was, das dürfen Sie selbst entscheiden.

Sicher ist, dass keiner der Augenzeugen empfand, das sei ein „normales“ Erdbeben. Alle glaubten im Moment an etwas wie Weltuntergang, oder mindestens an den eigenen Tod. Die ihn wirklich gestorben sind, oder „erlebt“ man den Tod? – gehörten ja auch nicht mehr zu den Augenzeugen, den Zeugen schlechthin. So gaben viele an, wie der Boden „geschmolzen“ sei, auf den Berghängen und in sich öffnenden Meerestiefen. Da nach meinem Wissensstand zu einem Schmelzvorgang ordentliche Temperaturen nötig sind, und es zur Bildung passender Nebenprodukte kommt, glaube ich eher, dass es sich bei den scheinbaren „Schmelzvorgängen“ um Verflüssigung, Entfestigung, Verschlammung und Versandung gehandelt haben mag, zum Teil unter erheblicher Spaltenbildung. – Und in diesen Bodenspalten sind denn auch mehrere Menschen vor den Augenzeugen verschwunden beziehungsweise hinab geschlürft worden in tiefere Schichten.

Spalten und mächtige Risse hatten sich in der Fallinie an den Steilhängen der Berge gebildet, sodass der hell gefärbte Untergrund wie ein Zebrafell zutage trat. In diesen Fallinien kam es auch zu Erdschlipfen. Riesige offene Spalten sollen sich auch am Meeresgrund gebildet haben, der längere Zeit trocken lag, als das Meer „zurückwich“. Was ich da zu hören bekam, ließ mich erschaudern und eher an die Küste des Bermudadreiecksglauben als an die Küste des Karibischen Meers, aber es wurde noch verrückter.

In den Rissen des „Zebrafells“ an den Bergflanken rumorte es, die Landschaft ruckelte in zuckenden Bewegungen senkrecht empor, Rauchwolken und Gasausstösse stießen gen Himmel, die einen glaubten an Rauch, andere sagten es sei Nebel und wieder andere Staub. Jedenfalls rann die Erde diesmal tüchtig, diesmal aufwärts, man wähnte die Hölle sei ausgebrochen, und viele glaubten an die Geburt eines Vulkans. Es roch nach Schwefel, Feuer und Rauch, und „jedermann“ sah „Feuerkugeln tanzen“.

Ich selbst habe ja schon etliche Vulkane besucht, auch aktive in den Tropen, habe auch schon manches darüber geschrieben und Vorträge gegeben, aber so etwas habe ich noch nie gehört, geschweige denn erlebt. Das übersteigt nun wirklich mein Verständnis, und ich kann all mein Schulwissen aus der Uni-Zeit glatt an den Hut stecken, das Gehörte so wenig erklären wie all die Unbedarften hier an der karibischen Küste. Und es sollte erst recht beginnen.
Nach dem Vorgeschmack der Hölle kam Poseidon und stahl Neptun die Show. Tsunamis waren jedermann schon hinlänglich bekannt, aber die bewegen sich „normalerweise“ vom Meer aufs Land zu und umgekehrt, aber hier geschah es anders, wie alles, am 12.Januar. Die erschrockenen Küstenbewohner wurden Zeuge eines Tsunamis aus der Seite, der das karibische Meeresbecken zuerst nach Norden entleerte bis der Meeresboden sichtbar war, wieder unter Spaltenbildung und „Schmelzen“ des Meeresgrundes, die Fischer alle Riffe zählen konnten ( und zuschauen mussten, wie einzelne noch dort fischende Boote mit Kollegen zerschellten ), und während die Zuschauer an der Küste, wohl wissend was jetzt folgen würde, in panischer Hast Anhöhen und Hausdächer erklimmten, kam prompt die Gegenreaktion:

Der Meeresgrund erhob sich im Norden haushoch und stülpte das Meer aus nach Süden, am Land vorbei gegen die Dominikanische Republik hinüber. In Haiti, das sich die Karibikinsel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, gab es kaum Schäden. Jedoch sei die Tsunami-Welle so hoch gewesen, dass sie drüben Leitungsmasten überschwemmt und mitgerissen habe, über die Opferzahl wurde nichts bekannt.

Was mich am meisten wunderte, dass die Küstenleute die Eigenartigkeit des Phänomens erkannt hatten und auch eine Erklärung boten: das Epizentrum, was das ist und wo das lag war ebenfalls schon durchgedrungen, sei eben diesmal nicht in der Meerestiefe gelegen wie bei einem normalen Tsunami, sondern liege auf dem Land, deshalb sei der Tsunami querab abgelaufen, und das seltene Schauspiel sei zustande gekommen, ohne weitere, große Zerstörungen verursacht zu haben. On die wohl recht haben?

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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