Der Sonntagsausflug führte uns über die dominikanische Grenze, doch das war nicht so leicht wie eine Grenzüberquerung von der Schweiz nach Europa. Wir wollten es mit dem eigenen Mazda versuchen. Seit langem hatten wir alles vorbereitet, wenigstens nach Auskunft der Amtsstellen in der Prinzenstadt: Versicherungspapiere für das Ausland, Fahrzeuginspektion, Zollpapiere, ein Stoß von Dokumenten. Von Port-au-Prince nach Malpasse kannten wir die Strecke schon, bis zur Grenze im eigenen Wagen und darüber hinweg schon öfters in den üblichen Reisebussen, Coach Line, Caribe Tours, nie mehr Terra Bus. Dass es im eigenen Fahrzeug etwas komplizierter würde, hatten wir aus Reiseberichten und vom Hörensagen schon gelernt.
Nach zwei Stunden waren wir an der Grenze. Was dann folgte, dauerte seine weiteren zwei Stunden. Auf der Haiti-Seite ging es zügig, ein freundlicher Polizist befragte und beriet uns kurz, dann bestiegen der Reihe nach zivile Helfer das Fahrzeug, ein Haitianer und ein paar Domis, vier oder fünf. Die erwiesen sich als sehr hilfreich und anerboten sich, für uns alles zu erledigen – natürlich hatte das seinen Preis. Sie verschwanden mit Pässen und Papieren im Innern der Gebäude, tauchten wieder auf und verschwanden wieder, wieder und wieder. Sie berieten in den Zwischenzeiten wohl, auf welche Weise sie am meisten Geld generieren könnten – es ist ja Wirtschaftskrise.
Schließlich fanden sie heraus, dass ich mit meinem Schweizer Pass legal sei aber meine haitianische Mitarbeiterin Melissa nicht, da stimme irgendwas mit dem Visum nicht.
Sie drehten das so, dass sie gar kein Visum brauche, arbeitenden Chauffeuren sei der Grenzübertritt ohne weiteres erlaubt. Jetzt war nur noch das Auto illegal, denn da stimmte etwas mit den Zollpapieren nicht, angeblich. Nach den ersten 100 US$ kostete es die zweiten, dafür durften wir im Auto sitzen bleiben und das von den früheren Grenzübertritten bekannte stundenlange Schlange stehen blieb uns erspart. Als die freundlichen „Butler“ nochmals 200 $ wollten, riss Melissa der Geduldsfaden, und ein tropischer Wortgewitterhagel prasselte über die verdutzten Helfer. Da der Hagel kreolisch war, verstanden diese wohl kein Wort. Aber sie verstanden den Tonfall, denn schließlich brachte einer, oh Wunder, eine temporäre Auto-Einfuhrbewilligung für die vorgesehene Region (Permiso para la introduccion Temporal de Automôvil Haitiano en Territorio Dominicano), und wir konnten endlich weiterziehen. Nach Passieren der letzten Eisentore kontrollierte ein Soldat nochmals die Papiere, die Barriere öffnete sich und die Begleiter verließen das Fahrzeug.
Endlich auf dominikanischem Hoheitsgebiet, ging es vorwärts, durch saftig grüne Waldlandschaften und an einigen Kulturen vorbei, zum Zielort Descubierta. Zuerst wollten wir eine Unterkunft suchen; sämtliche gefundenen Hotels waren geschlossen, außer dem „Iguana“, doch das war nett. Die kleinen sauberen Zimmer waren nicht klimatisiert, aber konnten durch Ventilatoren in Griff gehalten werden, und der Preis mit 300 Pesos (ca.5 € oder 2.50 €/Person) war äußerst bescheiden. Spanisch war natürlich die für sie einzig bekannte Sprache, aber für uns unbekannt. Doch wie in der Domrep üblich, arbeiten hier fast nur Haitianer und Sklaven, auf den Plantagen zu hunderten, in den Hotels vereinzelt – so war es auch hier. Jedenfalls fand Melissa sogleich eine kreolische Lands frau, die fortan als Dolmetscherin funktionierte.
Es folgte eine Rekogniszierung, so wie es sich gehört. Das ganze Städtchen steht im Zeichen der Iguanas, dem Namen der Taino-Indianer für eine hier verbreitete, urweltliche Echse. Nicht nur das Hotel heißt „Iguana“, auch an der Straße stehen unübersehbare Schilder „Vorsicht, Iguanas überqueren die Straße“.
Und dann waren sie da, gleich vor dem Eingang zum Nationalpark, wie auf einer Tafel zu lesen war. Den großen Carparkplatz säumten sie gleich zu Dutzenden, leibhaftig und lebend. Wie wenn sie auf die Fütterung warten würden. Man hat uns in Haïti tatsächlich geraten, die Tiere mit Brot zu füttern. Dies scheint mir denn doch eher dumm- als Reptiliengerecht, und wir werden darauf verzichten. Ob sich die zu erwartenden Krokodile auch mit Brot begnügen würden, unter dem Einfluss der Touristen?
Die waren denn auch carweise angereist, frisch aus den Touristenfabriken an der Küste. Vor dem kleinen Kassenhäuschen standen sie Schlange und zahlten ihr Eintrittsgeld, 50 Pesos pro Person (1 €). Wir verschoben unseren Besuch auf morgen und zogen uns in UNSER Iguana zurück. Der Esstisch stand in einem herrlichen Garten voll tropischer Bäume, deren lange Blätter wie hungrige Finger herabhingen gegen unsere gefüllten Teller. Ich genoss den dampfenden Reis mit der herrlich duftenden Sauce, am meisten aber das eiskalte Presidente, wie das herrliche Bier hier heißt. Den Rest überließ ich Melissa, da meine Zähne ja bekanntlich nicht mit denen der lokalen Krokodile mithalten können. Sie hat ja als meine Visa lose Chauffeuse auch strenger gearbeitet als ich und zwei Portionen verdient.
Neben dem Esstisch reckte sich ein Iguana, als Wurzelskulptur in Lebensgröße. Offenbar ist die Kunst, aus Wurzeln Leben zu zaubern, hier ebenso verbreitet wie drüben „bei uns“.
Die Cartouristen die hatten sich wohl wieder in ihre Ferienresidenzen zurückgezogen, wo sie zu hunderten oder zu tausenden eingestallt sind. Wahrscheinlich hatten da ihre Ferienveranstalter, Reisevermittler, die Hotels selbst und weiß nicht noch wer alle kräftig mitverdient. Später kamen noch andere Ausflügler aus den Feriendörfern an der Küste, ein österreichisches und ein amerikanisches Paar mit ihren Mietwagen, und fanden das einzige offene Hotel ebenfalls.
Das „Iguana“ ist ein Familienbetrieb, die Familienmitglieder sind alles Tiernarren. Nebst einem jungen Hündchen spielten wohl gegen 20 Katzen miteinander, verteilten dem verdutzten Hündchen ihre Ohrfeigen wenn es mitspielen wollte, und benutzten mich manchmal als Kletterbaum. Auch die Besitzerfamilie war ausgesprochen liebenswürdig und sympathisch: zwei Brüder, eine zerbrechliche ältere Dame, eine rüstige Tochter und die erwähnte haitianische Arbeitskraft. Alles blieb offen, selbst in der Nacht. Das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen wurde man nicht los, und es war kaum begreiflich, dass in den Städten im gleichen Land nur Angst und Verbrechen regieren.
Am späten Abend verpasste mir Melissa noch eine kräftige Massage, Masseurin ist ja ihr angestammter Beruf. Aber das muss man verheimlichen, denn dazu würde sie ein Visum brauchen. Visum hin oder her, ich konnte nun prächtig schlafen, bis morgens um vier ein Wecker schrillte.
Das Frühstück war köstlich und reichhaltig, so was wäre in Haiti unvorstellbar. Trotzdem erlagen wir der Verlockung nur kurz, denn natürlich wollten wir in der Morgenfrühe weg. Aber oft kommt es anders als man denkt. Unser Wagen hatte Plattfuß, und ein Radwechsel dauert beim Mazda. Dass wir den defekten Schlauch gleich reparieren wollten und es Sonntagmorgen war, machte den Fall nicht einfacher. Schließlich hockten wir zwei kleinen Motorrädern auf und ließen uns zum Parkeingang führen. Dort warteten die beiden Ehepaare bereits ungeduldig, denn gemeinsam war die Miete des Motorbootes erschwinglicher.
Ein paar Schritte tiefer lag auch das Boot mit den beiden einheimischen Bootsführern bereit. Es war eine stabile Kunststoffschale mit einem währschaften Außenbordmotor, der uns vorerst gemächlich ins offene Wasser hinaus tuckerte. Wir waren hier rund 40 Meter unter dem Meeresspiegel, denn der größte See der Antillen, 300 km² groß, ist der Rest einer einstigen Meeresstraße, die vor geologischen Zeiten Hispaniola in zwei Inseln teilte. Bei den hier üblichen Temperaturen von 40 bis 50 Grad verdunstete das Meer und ließ einen versalzenen Rest übrig, der heute dank steigender Niederschlagsmengen in den verkarsteten Gebirgen durch Unterwasser-Stromquellen wieder versüßt und verwässert wird und den Spiegel steigen lässt.
Durch das ansteigende Wasser wird die Pflanzenwelt in einer breiten Uferzone allmählich ertränkt, was zu einer eigenartigen Landschaft von einmaliger Wildheit führt. Eine halbe Stunde investierten unsere Kapitäne in die Fahrt kreuz und quer durch das Zauberland, dann stellten sie den Motor ab und gaben uns ein paar Schweigeminuten Zeit, den Stimmen der ungestörten Natur zu lauschen. Über 150 Vogelarten sind in der Region heimisch, und man hatte das Gefühl, auf einem der berühmten ostafrikanischen Seen zu treiben.
Erbarmungslos wurde der Motor wieder angerissen, und mit Vollgas rasten wir während einer weiteren halben Stunde über die offene Wasserfläche hinüber zur Isla Cabritos, der Geißeninsel, der Insel auf der Insel. Die Krokodile hatten offenbar heute keinen Besuchstag, und auch die berühmten Flamingos waren auf ihrem Sonntagsausflug, vielleicht nach Haiti hinüber. Dafür begegneten uns auf Schritt und Tritt Iguanas oder Leguane. Sie gähnten gelangweilt und ließen sich aus Meternähe knipsen. Was sind diese Menschen mit ihren blitzenden Kästchen doch für langweilige Dinger! Und dumm noch dazu, versuchen doch einige uns Brot anzudrehen statt saftiger Kräuter, die man zudem sorgfältig kennen sollte!
Auf dem höchsten Punkt der Insel ist eine Parkhütte mit kleinem Museum eingerichtet. Instruktive Tafeln orientieren über Zoologie, Geographie, Geologie und andere Besonderheiten. Wir waren glücklich, so früh am Morgen von Touristen noch unbelästigt zu bleiben und die herrliche Aussicht aus der Rasthütte daneben zu genießen.
Schließlich folgte der Spaziergang zum Boot zurück und die rasende Fahrt hinüber aufs „Insel-Festland“. Wir erlebten eindrücklich was eine „Spritzfahrt“ ist, aber bei der beginnenden Hitzestufe war die kühlende Dauerdusche nur angenehm. Das köstlichste Erlebnis aber blieb uns für den Schluss vorbehalten. Oben auf dem weiten Car-Parkplatz hatte eben ein Wasser-Camion zum Drehen angesetzt. Das war offenbar auch den Iguanas nicht mehr geheuer, denn der ganze Parkplatz begann lebendig zu werden, und die putzigen Kerle stoben rund um den Camion in alle Richtungen davon. Soviel Fitness hätte ich den lieblichen Ungeheuern denn doch nicht zu getraut!
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