Haiti:Tote und Verletzte nach Entscheid der Wahlkommission

Yele

Datum: 21. August 2010
Uhrzeit: 18:28 Uhr
Leserecho: 5 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Dass Steinhaufen kaum zu bewegen sind und solche schon gar nicht, ist ja klar. Dafür wurden sie auch aufeinandergeschichtet, Stein um Stein. Die Festungen sollten unverrückbar sein, die Zeit zementieren, für die denen sie Vorteile brachten. Das galt so zu seiner Zeit.

Aber dann kam Patton, der Amerikaner General, und forderte dass sich Festungen bewegen. Er baute Panzer. Die haben für einige Zeit die Macht geschürt, für die die sie schon hatten. Und damit den Krieg. Den Frieden haben sie auch nicht gebracht.

Jetzt sind es die Trümmerberge, unten in der Stadt. Die sich kaum bewegen lassen. Und die doch fort müssen, sich bewegen müssen, wenn sich auch das Land bewegen soll. Und es WIRD sich bewegen! Es waren schließlich auch nur Menschen, die wie Ameisen tausende von Steinen auf den Bischofshut getragen hatten, die zu den unbeweglichen Mauern wurden. Und wie der Präsidentschafts-Kandidat Wyclef Menschen bewegen kann, sehen Sie auf dem Bild seiner Yéle-Bewegung.

Ein Leser hat mir geschrieben, Rapsongs seien nicht sein Stil. Aber trotzdem sei er für den Rapper, wenn der etwas bewegen könne. Und der bewegt eben nicht mit Waffen, er bewegt mit Klängen, Rhythmen, Worten, Werken, Werten, er bewegt Menschen. Sogar Massen von Menschen. Ohne Menschen, da kann auch er keine Steine bewegen.

Der Künstler hat dieses Kunststück erstaunlicherwerweise und auf mancherlei Weise immer wieder fertig gebracht. Als Beispiel erwähne ich nur Yéle Haiti, und nur in Ausschnitten – es gäbe sonst Bücher zu schreiben, ein Buch würde nicht genügen. Yéle Haïti heißt „Schreie Haiti“ und ist eine 2005 von Wyclef gegründete gemeinnützige Organisation, die Projekte zur Verbesserung der Lebensqualität in Haiti, insbesondere der Jugend, fördert. Yéle Haïti schafft überschaubare Projekte für die langfristige Entwicklung von Haiti. In Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen führt Yéle Umwelt-Camps für Schüler und sportliche Aktivitäten durch, unterstützt die Reintegration jugendlicher Gang-Mitglieder, verteilt Nahrungsmittel in den Slums.

Anhand einiger Beispiele zeige ich die kunterbunten, wohldurchdachten, stets volksnahen Einsätze des Künstlers in

  • Bildung
    Schulbesuch für 4500 Kinder ermöglicht
    Universitätsbesuch von 12 ausgewiesenen Studenten finanziert
    Rehabilitationszentrum für Kinder verhafteter Krimineller
    Ernährung der Kinder von 12 Schulen ohne eigene Schulküchen
    Nahrungsabgabe an 7000 mittellose Familien
  • Sport
    Fussballprogramme für 650 Kinder aus den Slums
    Organisation von Wettkämpfen
    Förderung der Sportmedizin für Minderbemittelte
    Sportliche Ausrüstungen von Minderbemittelten
  • Kultur & Kunst
    Musikstudios und Ausbildungsanlagen in Cité Soleil
    Gründung klassischer Orchester für gefährdete Jugendliche
    Führung einer Kunstgewerbeschule in Jacmel mit Expansionsmöglichkeiten
    Scanning und Zugriff auf wichtige historische Quellen
    Motivation der Welt-Künstlergemeinschaft zur Hilfe für Haïti
    kreolische Synchronfassung von Filmen und deren Projektion in stromlosen Slums
  • Umwelt
    Wiederaufforstungsprogramm
    Umwelterziehungsprogramm
    Baumpflanz- und ähnliche örtlich gezielte Projekte zB in Gonaïves
    Umweltschutzlager
  • Gemeinwesen
    Nahrungsabgabe an bedürftige Slumbewohner
    Katastrophenschutz
    Trümmer- und Abfallbeseitigung
    Förderung von Sauberkeit und Hygiene
    Verbesserung des Strassennetzes und dessen Verkehrsgängigkeit


Wyclef ist praktisch schon lange Präsident von Haiti, auch ohne Wahl. Mindestens seit 2005. seit der Gründung von Yéle. Er tut schon lange das, was eigentlich ein Präsident tun sollte. Es wäre nur logisch, wenn jetzt auch der Titel gefolgt wäre.

Das sind sich die Machthaber nicht gewohnt. Die „lösen“ ihre Probleme wie eh und je: mit Geld und Gewalt. Die Welt macht es vor. Natürlich spielt auch Wyclef seine Geigen, Löwen, Pfützenradeln & Co. Allenthalben begegnen uns Trupps junger Leute, Männer und Frauen, in blauen T-Shirts, mit dem roten Yéle-Logo. Sie regeln den Verkehr, wenn der zum Stillstand gekommen ist, kreieren vorübergehende Einbahnsysteme, leeren Container, räumen Schutt weg, reinigen die Strassen, machen sich nützlich. Und das nicht etwa aus Propaganda, Wyclefs Yéle-Organisation tat dies schon lange, vor seinen Präsidentenplänen. Sie erledigte Dinge, die eigentlich Sache des Staates wären.

Und jetzt, wie reagieren die Alten, das Establishment, die Reichen, die Überraschten: sie überschwemmen Wyclef mit Morddrohungen. Morddrohungen ! Methoden wie einst und je. Sie beweisen, dass sie Demokratie noch nicht gelernt haben. Sie geben das nur vor. Sie glauben, dass man mit Waffen und Morden die Probleme des Landes lösen könne. Und das sollen Kandidaten für eine Präsidentschaft sein? Wie werden solche „Menschen“ wohl das Land regieren? Wie mit der Armut, dem Hunger, den anderen Problemen umgehen? Wir werden ja sehen.

Schlammschlachten haben wir ja erwartet. In einer Schlammschlacht werden überholte Binsenwahrheiten, Halbwahrheiten, Unwahrheiten ausgegraben und aufgebauscht, strategisch eingesetzt. Aber das ist nicht mehr Schlammschlacht. Das ist Mittelalter pur!

Gestern Freitag, 20. August 2010 musste das Ergebnis bekannt gegeben werden. Der Wahlrat hatte zu entscheiden, welche Bewerber zur Wahl zugelassen werden und welche nicht, für wen Demokratie gelte und für wen nicht. So wird im Westen Demokratie zurecht gebogen, manipuliert. Die Bevölkerung ist zornig. Sie ist auf den Straßen. Bereits gestern früh hat es im Sorgen- und Millionen-Slum Cité Soleil Tote und Verletzte gegeben, Helikopter sind ausgerückt. Nach Volksmeinung wird die Mehrheit überfahren, Demokratie hat versagt, Regeln haben gewonnen. So gilt die Regel, dass ein Präsidentschaftskandidat während fünf Jahren ununterbrochen im Land gewohnt haben muss, das wurde Wyclef zum Verhängnis. Obschon es die Regierung war, die ihn als Botschafter ins Ausland verbannt hatte. Demnach darf eben ein Botschafter nie Präsident werden.

„Das Establishment hat die Wahlen gekauft“, „die Weltorganisation hat versagt“, tönt es nun unten. Sie haben ein System erfunden, das es einem vom Volk erwünschten Führer nicht gestattet, sich zur Wahl zu stellen. Sie wollen, dass Führung bei den Reichen bleibt. Wyclef gehört zwar zu den Reichsten, aber er denkt und handelt nicht wie sie, wie die Profiteure. Die UNO will Sklavenhalter, Profiteure, keine Helfer und Entwickler.

Man sagt auch, unten, Wyclef sei dem steinernen Establishment suspekt, weil er zu viel wisse über den Verbleib ausländischer Spendengelder und mit seiner Wahl ein Fenster hinaus auf die Welt geöffnet würde, das man lieber verriegelt halte. Der Gründe werden zurzeit viele ausgescharrt und diskutiert, das ist ein Vorteil, es kommt vieles in Bewegung. – Doch eben ist auch das Internet in Bewegung gekommen, und ich kann meine Kolumne aufs Netz übermitteln. Die Diskussionen gehen weiter, und angesichts der momentanen Situation muss man Wyclef wohl anraten, es in vier Jahren wieder zu versuchen.

Aber auch in einem heutigen politischen Gremium, etwa einem Wahlrat, gibt es nicht mehr nur Rechtsdenker, sondern auch Rechtdenker, immer mehr. So taten die sich schwer und konnten sich bis spätnachts nicht entscheiden. Als es dunkel war und die potentiellen Protestler vermutlich im Bett, gab man den Bescheid bekannt. Und jetzt laufen die Diskussionen auf Hochtouren, und ich schreibe. Das Internet war bis ca. 10 Uhr, abgestellt.

Hatten wir doch schon einmal. 1990 war es ein Kirchenmann, der zu berühmt war um Demokratie mitzuspielen, der die Wahl schon ohne Wahl gewonnen hatte. Und 2010 ist es ein Hip-Hopper, der einen Volksentscheid Lügen straft. Kirchenmann und Hip-Hopper müssten eigentlich eine ganz große Lehre sein und der Welt zeigen, was das Haiti-Volk will. Es will Nahrung für Körper, Seele und Geist, Friede, Freude und Glück – sind denn die Politiker schwer von Begriff? Halleluyah, Yéle Haïti!!!

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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  1. 1
    Jean-Luc

    Ich habe gehört, Wyclef ist vom Vorsitz der Yéle Stiftung am 5.8. zurückgetreten.

    Nun ist es eine fast unlösbare Aufgabe, das alte System zu reformieren! Und das Land nach dem Erdbeben komplett neu aufzubauen ist eine andere riesen Aufgabe. Ich behaupte, einer der schwersten Präsidenten-Jobs der Welt. – Ob Wyclef das mit Learning by Doing hinbekommen hätte, hätte er noch beweisen müssen.

  2. Danke, finde das jammerschade – ich habe an ihn geglaubt, obschon ich die Probleme natürlich auch sehe. Wir durften ja auch mal lernen durch Schwimmen !

  3. 3
    Jean-Luc

    Es fehlt ein Rettungsschwimmer für 9 Millionen Leute.
    Die Chancen für die Bevölkerung wären größer, wenn der ganze Hype auch auf Visionen und Inhalten basieren würde, anstatt nur auf Popularität.

  4. Im CNN-Interwiew bekennt sich Wyclef grundsätzlich zu den bisherigen Konzepten. „Die Pläne von Bill Clinton sind gut und fortzuführen“ und zu ergänzen. Da bin ich sehr einverstanden. Muss man denn einen schon bewährten Rettungsschwimmer unbedingt durch Neuheiten verschlimmbessern ? Die Menschheit ist neuheitssüchtig, neue Katastrophen blockieren auch Hilfen, die für Haïti dringend wären. Die Konkurrenz der Katastrophen eskaliert. Hat denn einer der übrigbleibenden Rettungsschwimmer neuere und bessere Ideen geäussert ? Ist nicht eher ein politisches System unbrauchbar, das einen Kandidaten auf 5 Jahre vertröstet, während denen bestimmt die gleichen Trümmer noch umherliegen ? Ich wünsche dass Wyclef so lange am Ball bleibt und sich nicht mehr zu sehr im Ausland beschäftigt. Und dass man ihm dann wieder eine Chance gibt !

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