Als ich vor bald zwanzig Jahren die Schweiz verließ, um meinen Lebensabend hier in Haiti in besserem Klima zu verbringen, habe ich meine Schweizer Zelte abgebrochen und verkauft und aus dem Erlös ein Haus auf der Insel gebaut. Ich habe mir dazu eine prachtvolle Lage auf einem Hügel ausgesucht, vom Meer nur noch getrennt durch eine etwa 200 m breite Küstenebene. Da diese sumpfig ist, habe ich mir eine nachhaltig bau freie Lage gesichert. Das Haus umfasst auf der Meeresseite vier Stockwerke, wobei jedes das untenliegende überragt, sodass man nie sieht was unten oder oben geschieht und sich überall allein glaubt. Das unterste Stockwerk, quasi das Kellergeschoss, enthält unter anderem die Wohnung von Alson, meinem „Guardien“ und Hausburschen, mit seiner Familie. Das erste Stockwerk ist nach hinten ebenerdig, also ein Erdgeschoss, und enthält dort die Garage und meine Wohnung, gegen das Meer eine riesige Terrasse mit Bögen, Balustraden, tropischen Topfpflanzen und Windspielen.
Das zweite Stockwerk enthält unter anderem Schlafzimmer und auch wieder eine riesige Terrasse mit Bögen und Balustraden. Das dritte Stockwerk ist eigentlich nur ein Zimmer in einem Turm, da wohne ich inmitten einer unvorstellbaren Aussicht, umgeben von Computern und Internet-Material. Draußen auf dem Dach befinden sich neben dem Wasserschloss einige Solarpanel und die Satellitenschüsseln.
Gerade ist Melissa bei mir, meine Gouvernante und Masseuse mit den Zauberhänden. Sie macht dass ich jünger und glücklicher und länger lebe. Ein goldiges Mädchen.
So, diese Einführung war nötig, um das Folgende zu verstehen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Stockwerk realisierte ich nämlich einen doppelten Boden. Der so entstandene meterhohe Raum ist rundum mit Mauern verschlossen, lediglich einige Öffnungen blieben frei, gedacht als Eingänge für Tiere. Durch die vorkragende Bauweise der Terrassen sind die Tiere vor ungebetenen menschlichen Besuchern geschützt. Es bestehen für Menschen keine Möglichkeiten, den Hohlraum zwischen den beiden Stockwerken zu erreichen.
Es ist ja bekannt, dass ich Tiere sehr mag – habe ich doch viele Tierfilme in den Alpen und in Afrika gedreht und dabei die tollsten Erlebnisse genossen. Es ist auch bekannt, dass es in Haiti kaum mehr Wildtiere gibt da die Einheimischen alles ausgerottet hatten was sich ausrotten lässt. Ich wollte für Tiere einen „überfallsicheren“ Wohnraum zur Verfügung stellen und hoffte, dass er angenommen würde. Eigentlich hatte ich mit Fledermäusen gerechnet. Aber es kam viel besser: zu meiner freudigen Überraschung war es ein Paar riesiger Schleiereulen, die sich hier einnisteten und viele Jahr lang Babys aufzogen, stets deren zwei, und meist zweimal im Jahr. Die Eulenfamilie hatte ihren Horst direkt unter meinem Schlafzimmer und unter meinem Bett eingerichtet, sodass ich beinahe von einem „intimen“ Kontakt sprechen könnte. Die Familie pflegte in der Nacht erbärmlich zu schreien, besonders während den Fütterungen, sodass ich deren Sprache bald zu deuten verstand und stets im Bild war, was die Tiere taten und vorhatten.
Einmal rief uns Alson in der Morgenfrühe aufgeregt zu sich. Der Bursche war zwar ein reinrassiger Analphabet, wusste aber mit der Natur geschickt umzugehen. In der Nacht war eine der beiden jungen Schleiereulen abgestürzt, sie konnte noch nicht fliegen. Alson hatte sie erfolgreich eingefangen, und es gelang ihm, ein Seil um eines der Eulenbeine zu schlingen. Er trug das Tier ins Erdgeschoss hoch, vertäute den Strick hinter dem Haus und rief uns herbei.
Die halbwüchsige Eule plusterte sich auf wie eine Kugel, mindestens halbmeterhoch. Sie schaute uns mit großen, gelben Augen an – ein Blick den ich nie vergessen werde – ich muss sagen, vertrauensvoll. Wie wenn sie sagen wollte, „Ihr könnt mir schon helfen, lasst euch was einfallen!“. Mit einer Schleiereule Auge in Auge ! Mit ihrem spitzen Hakenschnabel und den mächtigen Dolchen an den Füssen. Jammerschade, dass ich keinen Fotoapparat zur Verfügung hatte – so muss ich mich hier mit einer älteren Aufnahme begnügen, die die Eulen noch als flaumige Babys zeigt. Wir berieten, das Problem war nicht einfach. Aber Alson und Melissa fanden eine Lösung an die ich nicht glauben wollte. Sie suchten eine meterhohe Schachtel und stülpten diese über das Tier. Das wehrte sich nicht und hielt still, wohlwissend dass jetzt Hilfe nahte. Sie schlossen die Deckelklappen, das Seil ragte noch heraus. Dann transportierten sie das Eulenpaket auf die Terrasse im 2.Stockwerk. Sie hoben die Ladung über die Balustrade in den freien Raum hinaus, senkten Schachtel und Tier vorsichtig vor die richtige Eingangsöffnung und schwangen die am Seil hängende Schachtel hin und her, bis sich deren Öffnung gegen die Öffnung der Eulenwohnung bewegte. Prompt schlüpfte das Tier aus der Schachtel und hinein in die Horsthöhle, die Schachtel stürzte leer zur Erde, wie in der Nacht die Eule. Die junge Eule trug zwar noch das Seil an einem Fuß mit sich, bei dem scharfen Hakenschnabel dürfte dies kein großes Hindernis mehr gewesen sein. Die spektakuläre Rettungsaktion war geglückt. Und wir alle waren wieder um ein unvergessliches Erlebnis reicher.
Nach einer Redensart trägt man „Eulen nach Athen“. Diesmal trugen wir Eulen nicht nach Athen sondern an ein viel näheres Ziel, nämlich unter mein Bett!
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