Ich kann nicht behaupten, dass sich mein Umfeld nicht verändert. Immer wieder neue, fremdartige Klänge und Bilder erlebe ich in engster Nachbarschaft, in meinem Garten. „Madame Sarah“ heißt sie, meine neueste Nachbarin. Es ist ja ein merkwürdiger Name für einen Vogel. Auch bin ich mir von einer jungen schwarzen Dame weniger Dreistigkeit gewohnt, aber in Haiti lernt man Toleranz gegenüber Fremdem. Nach meinem bescheidenen Schweizer Wissen könnte Madame Sarah sogar ein Monsieur sein, denn Vogelgesänge sind männliche Reviermarken, habe ich einmal gelernt. Aber die Einheimischen nennen sie Madame, also bleiben wir dabei.
„Madame Sarah“ nennt man in Haiti auch die Marktfrauen hinter ihren Warenhaufen. Das ist kein Zufall, sondern auch sie schnarren und plappern unentwegt wie die gesprächigen Vögel, sodass man diesen Frauen denselben Vogelnamen gab. Ähnlich den „Klatschweibern“ bei uns.
Madame Sarah ist ein krähenartiger Riesenvogel, mindestens so groß wie ein Kolkrabe. Und ebenso frech kolkt sie jede Morgenfrühe vom Wipfel der Königspalme zu meinem Türmchen herüber, und ich kolke zurück. So unterhalten wir uns eine Weile, ich versuche ihre Laute nachzuahmen und schnattere ebenfalls drauflos, und ich habe den Eindruck, wir verstehen uns trefflich. Manchmal dreht sie eine Runde ums Haus und kommt gleich wieder zu ihrer Startrampe, dem Spitzen-Palmwedel der Königspalme, zurück, und unser Gespräch geht weiter.
Ich habe gemeint, zu einer Sprache gehören mindestens 3000 Wörter. Aber das Lautinventar von Madame Sarah umfasst tausende von Klangfiguren, die Tonbandbreite mehrere Oktaven, die Lautstärke steht den hiesigen Riesenlautsprechern kaum nach, und die Kreativität übertrifft jede Vorstellung.
Ein Onomatopoet müsste man sein, so heißt einer der außersprachliche Klangbilder in ähnlich empfundene Lautgestalten umgießen kann. Djück-djück, zizibä-bää-bäää-bääää, pink, djück-djück, ziiiiiii, zizibä-zizibä-zizibääää, zui-ti-zui-ti tr-tr-tr-tr-trrrrr, tiht tiht tiht, prräk, tok-tok, dann wieder ein kurzes Flöten, ein heftiges Zetern, ein Fauchen und Zischen, und los geht’s wieder mit zi-bäh-zi-bäh, krö, kjack, kjaschack-kjaschack-kjaschack, srihkrohohohooot, tschaff-kuak-ak-ak, — , krah-kirk-konik-konik-konk, gaggaggag, skri-tschjuuup, rätschrätschtschär-huisk-iii, -, tapp,tapp, tschiep, tschiep, tschiep, tschiiiep, und manchmal kommt der Refrain dazwischen, oder ein Laut bleibt ihr im Hals stecken. Meine klangbegabte Nachbarin ist eine wahre Stimmakrobatin! Ich wiederhole mich: Ein Onomatopoet müsste man sein. Und das bin ich nicht…
Übrigens sooo-ha-ha-aaa–oooo-o-o-o lustig, fast ähnlich tönt der gelegentliche Frühgesang des Mascaron, der auch über ein unglaubliches Repertoire verfügt. Und ich sage nochmals: Ein Onomatopoet müsste man sein. Ich habe den starken Verdacht, dass sich Madame Sarah über den Vogelscheucher lustig macht und seine Klangerzeugnisse imitiert.
Es tönt wie im Freiflughaus eines Zoologischen Gartens. Madame Sarah kleckert für ein paar Sarahs. Aber eines ist sicher: Madame Sarah schwatzt zu viel. Entschieden zu viel!
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