Haiti: Wenn die Sirenen singen

Sirene

Datum: 17. Dezember 2010
Uhrzeit: 14:40 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
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Ich will meine Leser vom Weinen etwas zum Schmunzeln bringen, die traurigen Katastrophen etwas verballhornen, die Katastrophe des ablaufenden Jahres, das mit dem Goudou-goudou begann, dem Weltuntergang für so viele. Dann Thomas, der alsbald die Trümmer flutete, das Jahr des Flutens einläutete, es flutet noch heute. Dann das Totenskelett der Seuche, die immer noch tausende dahinrafft, jeden Tag. Und der Karnevalsänger «Sweet Micky», mit seinen Horden Réponse-Paysan, die Bürgerkrieg führten gegen das Lager Inite eines Jude Célestin, die auf dem Rücken der Armen ihren Kampf austragen um den schwierigsten Job der Welt, und glauben, sie wären qualifiziert dazu.

In Haiti, dem Nachbarstaat der Dominikanischen Republik, singen die Sirenen, fast ohne Unterlass. Ich meine die gellenden, technischen, die Martinshörner. Denn es gibt dauernd Katastrophen. Und zum Schluss meine ich den See, den größten des Landes, selbst der ist zur Katastrophe geworden, denn er hört nicht mehr auf zu fluten. auch immer noch flutet, nach Westen hinauf gegen die Trümmerfelder der Prinzenstadt, denn er liegt tiefer als das Meer, und nach Osten zuerst noch hinab, denn der Nachbarsee dort liegt noch tiefer, dann aber umso mehr hinauf, in die Dominikanische Republik und zum echten Meer. Auch dort singen Sirenen.

Der Azüey-See ist der Grenzsee zur Dominikanischen Republik, 29 km lang, bis zu 10 km breit und bedeckt 170 km². Er liegt in der Senke und Seenkette zwischen den Inselstaaten, lag Langezeit 46 m unter Meer und ist damit eine Depression, der Rest eines einstigen Meerarmes der Hispaniola von Barahona bis Port-au-Prince in zwei Inseln teilte. In der Folge vertrocknete der Meerarm immer mehr und füllte sich auf, während der See heute wieder flutet und ein wachsendes Problem wurde. Er wird wieder eindringen in das Grabental und den ursprünglichen Zustand erneut herstellen. Man wird dann von der Prinzenstadt nach Barahona segeln können, wenn es bis dann noch Menschen gibt. Das ist bei den herrschenden Weltuntergängen nicht sicher.

Und wie das bei unbegreiflichen Naturphänomenen so üblich ist, spielen Legenden und Ammenmärchen eine berauschende Rolle. Im Voudou gibt es der Sage nach ebenfalls fünf Sirenen, wie in der griechischen Mythologie, die bis zur Trennung des Meeres noch beisammen waren. Damals war ein Absinken des Meeresspiegels angesagt, sodass sich hier das Meer trennte in ein östliches und ein westliches, deren Küsten heute bei Barahona beziehungsweise Port-au-Prince liegen. In dem abgetrennten Meeresrest der heute Azüey heißt, nach den damaligen Indianern, blieb unglücklicherweise die Sirene Simbie gefangen, zum Glück hat sie hier genügend Raum zum Schwimmen. Sie will aber mehr.

In der Juli-Vollmondnacht steigt Simbie heraus und ruft mit traurigen Liedern nach ihrer Freundin Tesin, das ist ein zauberhaft betörender Gesang dem niemand widerstehen kann. Sie singt ihre Zauberweise so lang, bis ein Menschenopfer bezirzt hinhört, meist ist es ein Fischer im Einbaum, und von ihr hinuntergezogen wird in die Fluten. Sie verschlingt jedes Jahr nach dem Tag des Voudou-Wassers ein Opfer um leben zu können, sonst schüttelt sie sich in ihrem Seebett vor Wut über die Trennung von ihrer Freundin Tesin. Und das gibt jedes Mal ein verheerendes Erdbeben für die Menschen.

Es ist der bedächtige Atem von Simbie, der das langsame Ein- und Ausatmen des Sees bewirkt. Er ist zurzeit wieder am Steigen, um sich einmal wieder mit dem Meer zu vereinen. Dann wird Simbie ausbrechen und im Meer nach Tesin und den andern Freundinnen suchen. Sobald sie Tesin und die andern gefunden hat, werden die Erdbeben in Haiti für immer aufhören.

So lange provoziert der Azüey-See Überschwemmungen und zunehmende Schäden, denen die Gebäude der haitianischen und der dominikanischen Zölle, der Einwanderungsbehörde, die Quarantänegebäude und die Kasernen der Grenzschutztruppe CESFRONT, der Grenzmärkte beider Staaten und andere bereits zum Opfer gefallen sind. Sie wurden höher oben neu erbaut. In letzter Zeit nimmt das Steigen des Wasserspiegels immer mehr zu. Der Übertritt von Fahrzeugen über die Grenze ist chaotisch geworden. Schon werden die Anwohner der dominikanischen Grenzstadt Jimani dem Wasser nicht mehr Herr, und wahrscheinlich ist die Straße von Port-au-Prince nach Santo Domingo bald nicht mehr benützbar.

Die Erde atmet dauernd, hebt und senkt sich, manchmal rumorend mit Beben oder gigantischen Feuerwerken, manchmal sich still hebend und senkend wie der Brustkorb eines schlafenden Riesen. Das ist Simbie, die atmet. Die andauernde Hebung des Azüey-Sees ist zu einem Problem geworden.

Der Azüey-See steigt und steigt. Geologen aus den Inselländern und aus dem Ausland versuchen das Phänomen zu erklären. Bisher vergeblich. Ich vermute, dass es eine tektonische Hebung ist, sollte die Legende von den Sirenen nicht ganz stimmen. Solche Hebungen können aus vielen Gründen erfolgen, zum Beispiel kann das durch die Eisschmelze zunehmende Wassergewicht der Ozeane Schollen im Meer tiefer drücken was ausgleichsweise wie eine Hebelwaage eine andere Scholle „isostatisch“ in die Höhe drückt. Hebungen und Senkungen der Schollen können auch ohne isostatische Störung durch horizontalen Zusammenschub oder Streckung infolge Gebirgsbildung, Faltenzusammenschub, Bruchbildung, Bruchdehnung, Ausziehen tieferer Schichten und anderswie bewirkt werden. Auch Änderungen der Gleichgewichtsabplattung der Erde, astronomische Änderungen der Erdbewegung oder Verlagerungen der Erdachse und anderes mehr können Hebungen und Senkungen bewirken. Oder die bösen Amis experimentieren wieder mit einer tektonischen Geheimwaffe. Aber Sie wissen ja: Irrationales hat in Haiti immer Raum, und im Übrigen muss man nicht alles erklären können.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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