Mein Leben ist Erleben

Ritt-zur-Schule

Datum: 30. Dezember 2009
Uhrzeit: 18:49 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Erlebnisse sind eine Trilogie: zuerst die Vorstellung, eine Stufe die jeder kennt, und bei der die meisten schon stecken bleiben. Die zweite Stufe, das Realisieren, wird kaum mehr erreicht. Die dritte Stufe, das Nacherleben – kann nur erreicht werden wenn die zweite Stufe durchstanden ist.

Erlebnisse können schön oder schrecklich sein, flüchtig oder nachhaltig, angenehm oder spannend – sie entstehen beim Fernsehen, beim Lesen, beim Träumen, als Phantasiegebilde im Kopf, und bei den meisten bleibt es dabei. Fernsehen oder Lesen ist bequemer, diskreter, und immer gefahrlos. Fußball am Fernsehen erzeugt ja auch Mitfiebern, „WIR-Gefühl“. Die meisten Fernseher und Leser „tun“ dies damit ihre eigene Vorstellungskraft das Wahrgenommene in ihrem Kopf zum „Leben“ erweckt.

Auch ich selbst habe in der Jugend viel gelesen von Karl May, Abenteurern, Afrikaforschern, Höhlenforschern – sie alle haben mich angeregt. Einige Fotos, teils datiert, helfen mir bei den Erinnerungen.

Mein Umfeld empfand ich als langweilig, das musste ändern. Mit 10 gründete ich den „Globi Club Zugerrötel“, Fotos erschienen in der damaligen Globi-Zeitschrift.

Mit 12 – es war noch Krieg rund um die Schweiz – gründete ich die „Jugend-Tierschutzgruppe“. Sie baute und platzierte Nistkästen, und mit 15 veranstaltete ich in der SAC-Hütte „Bärenfang“ das erste „Jugend-Tierschutzlager“, dem ab jetzt jährlich weitere folgten – das hat bis heute angedauert (siehe „www.sjt.ch“) !

Als 14jähriger veranstaltete ich – unterstützt vom Globi-Verlag – einen Kinder-Skitag, besucht von Hunderten aus dem ganzen Land.

Während meiner Jugend-Zeit war ich ein sehr aktiver Pfadfinder – das Pfadfinderleben brachte mir viele Abenteuer. Ich suchte auch Kontakte zu exotischen Freunden und Freundinnen, die mich teils besuchten und denen ich die Schweiz, auch die unterirdische, zeigen durfte. Darunter auch Buchautoren, mit denen sich interessante Kontakte ergaben.

Indessen hatten mich Höhlengeschichten angesteckt. Solche aus alten Chroniken über das Erdmännliloch im Deckenschotter der Baarburg. Dann eine aus der Globi-Zeitschrift über das Mamilchsloch am Thunersee. Mit einem Schulfreund fuhren wir per Velo kurzerhand hin um das Loch zu suchen. Es waren gerade Ferien, und so blieben wir eine ganze Woche. Wir stellten die Velos ein und suchten alle Höhlen am Sigriswilergrat, im Seefeld und Hohgantgebiet. Jede Nacht schliefen wir in einer anderen Höhle, verpflegen konnten wir uns kostenlos auf den benachbarten Alpen.

Eine Dissertation von Paul Egli machte mich auf das „Hölloch“ im Muotatal aufmerksam (im übrigen hatte ich kaum mehr Zeit zum Lesen. Ich brauchte meine Zeit zum Erleben). Der damalige Höhlenplan wies Gänge von 3,5 km Länge aus. Ich suchte Kontakt mit der damals tätigen Forschungsgruppe Hölloch unter Leitung von Hugo Nünlist. An meinem 18. Geburtstag durfte ich erstmals an den Forschungen teilnehmen; an diesem Tag entstand auch das in „Die Alpen“ (1951 S.153 Abb.6) publizierte Foto, das mich als 18Jähriger stemmend im „Schlossgang“ zeigt. Die Stufe Zwei hatte (längst?) begonnen. Während vieler Jahre war ich in der Höllochforschung aktiv – was in den „Alpen“ alljährlich und später in weiteren Hölloch-Büchern dokumentiert ist. Ich durfte die Erforschung des zeitweise welttgrößten Höhlensystems über mehr als 250 km neu entdeckter und vermessener Gänge miterleben. Gelegentlich waren wir tagelang vom Hochwasser eingeschlossen. Aber es gab auch tausend andere „exotische“ Erlebnisse.

Zuhause trieb ich es auch exotisch. Ich pflegte und beobachtete jahrelang, wohl zum Leidwesen meiner Eltern, allerlei garstiges Getier, von tropischen Fischen, Skorpionen und Vogelspinnen bis zu Gift- und Riesenschlangen. Auch mit den Hunden – meine Eltern hielten stets Deutsche Schäfer – verstand ich mich bestens. Ich versuchte Intuition als Kommunikationsmedium und freute mich kindisch, wenn Rex oder Nato oder wie sie alle hießen tat was ich nur andeutete oder stark genug „dachte“. Mein spezielles Hobby war Tierfilmen, auch in der Freiheit. Ich konnte tagelang im aufgehängten Versteck in einer Felswand ausharren, bis die ausgeschlüpften Jungadler ausflogen. Prof. Burda hatte mich in ein Symposium gebeten. Im Zoologischen Institut der Universität Zürich. Ich musste da über meine Beobachtungen am Adlerhorst, und die aufgezeichneten „Aktogramme“ referieren. Er bat mich anschließend, das Geschilderte unbedingt zu veröffentlichen, doch das bedeutete mir nichts.

Auch Geld bedeutete mir nichts oder wenig, alles musste „kostenlos“ funktionieren. Zum Beispiel meine Jahre im Nationalpark. Sie gehören zu den tiefst bezahlten aber intensivst erlebten meines Lebens. Wenn ich mich recht erinnere, erhielt ich vom Nationalfonds ein Taggeld von ganzen 6 Franken. Das reichte nicht einmal um die Miete meiner Wohnung in Winterthur zu begleichen, die ich ja unbedingt „durchhalten“ wollte. Aber die Zeit gehört zu den „Hoch-Zeiten“ meines Lebens. Da war mal die Aufgabe selbst: In einem Projekt der Ethologie (Verhaltensforschung) das Verhalten der Hirsche filmisch zu dokumentieren. Und dann das Leben in unberührter Natur, das Leben in den normalerweise verschlossenen Parkhütten, die sonst verbotene vollkommene Bewegungsfreiheit im Nationalpark, oft mit einer kleinen Forschergruppe aber auch wochenlang völlig allein – höchstens mal einem Grenzwächter oder Schmuggler begegnend. Eine Hoch-Zeit war auch eine meiner Nächte unter sternklarem Himmel, unter einer Arve, weit unter mir das stundenlange urtümliche Röhren der Brunfthirsche. Vielleicht das schönste Nachterlebnis meines Lebens (die Frauen mögen mir verzeihen).

Mit 20 entdeckte ich Afrika. Per Autostop reiste ich mit einem Kollegen über Spanien-Portugal nach Marokko bis in Gegenden, wo noch keine Glasfenster existierten. Wir erlebten unvorstellbare Abenteuer – allein „ein Buch“ wert – und ich war sicher, wieder nach Afrika zu fahren, aber besser ausgerüstet. Wie üblich waren wir ja nur mit einem Notgroschen losgefahren, der so groß sein musste, dass er stets zur Rückreise mit den billigsten öffentlichen Verkehrsmitteln reichte. Dies war irgendwo im Riffgebirge der Fall, wo wir schließlich ohne einen Rappen Ausgaben gelandet waren. Wir hatten das große Glück, überall eingeladen zu werden. Per Busse, Fähre und Personenzüge ging es zurück, natürlich in der damals noch existierenden dritten Klasse, oft am Boden sitzend oder liegend.

Vor dem Fernseher sitzen und Passiverleben bedeutete mir nichts. Ich wollte alles selber machen. Mein Ziel war es, Dokumentarfilme herzustellen, natürlich zuerst in Marokko. Ausländische Filmhochschulen, bei denen ich mich um Ausbildung bewarb, sagten mir ab, da für Schweizer in den nationalen Instituten kein Platz war. Das Fernsehen übernahm das Manco. Meine ersten Sporen verdiente ich mir im Fernsehstudio als Kabelträger und Dekorationsarbeiter ab, wohlgemerkt allnächtlich, da ich tagsüber als Lehrer arbeitete. Eines Nachts ließ mich der Programmdirektor kommen – zum Glück erwies sich meine Befürchtung als falsch, eine Rüge zu kassieren – und bot mir die Chance als Kameramann in einem Außen-Kinderspielfilm zu wirken. Bei dem berühmten Gastregisseur lernte ich viel dazu. In der Folge konnte ich der Programmdirektion meine Dokumentarfilmprojekte für Marokko vorschlagen. Es wurden daraus 16 Sendungen mit Lifepräsentation, und in der Folge drehte ich dort auch abendfüllende Kinofilme, zu denen mir das Fernsehen Koproduktion anbot.

Die Kinofilme waren teuer, brachten aber auch etwas ein. Ich hatte das Pech, dass die Uraufführung des einen Films mit dem 6-Tagekrieg in Israel zusammenfiel. Ich musste die „Neutralität“ der Schweizer erleben, denn arabische Themen waren plötzlich Tabou, und die Kinoveträge wurden anulliert. Einem Kino das sich nicht einschüchtern lassen wollte wurde Tumult und Brandschatzung angedroht. Der Totalvelust war perfekt. Was tut’s.

Habe mehrere überlebt (Totalverluste bei Börsencrashs, Flugzeugabstürze und -Notlandungen, eine davon fast ins Mittelmeer, und mehr). Geld, Geld weg, wieder Geld, etc. Eine Handvoll Nullen, dann wieder eine einzige – es wiederholt sich. Fast langweilig. Es soll Leute geben, die sich dafür umbringen. Ihr Lebensziel war die Anzahl der Nullen!

Stets ergaben sich wieder neue Chancen. So offerierten mir Kuoni und SLV-Studienreisen einen Vertrag als Reiseleiter, und jahrelang führte ich Lehrer und andere Intellektuelle carweise durch Marokko und die angrenzenden Gebiete, selbst an die Kriegsfront. Ähnliches passierte auch mit übrigen Ländern Afrikas. Dabei kam mir zugut, dass ich ja auch Geographie-Geologie studiert und unterrichtet hatte. So durfte ich jahrelang Studiengruppen auf den Kilimandjaro und in die berühmten Tierreservate wie Serengeti, Ngorongoro und andere führen. Ich konnte mir jetzt auch Privattourismus leisten, bestieg nicht nur alle Hochgebirge des Kontinents, sondern lernte auf meinen rund 80 Reisen die meisten afrikanischen Länder kennen.

Eine der unvergesslichsten war das Durchfliegen des „Schwarzen Kontinents“ auf dem Meridian von Frankfurt – wo wir ein paar Flugschüler mit ihrem Lehrer für ein paar Wochen eine Maschine mieteten – nach Süden – im Tiefflug durch die Sahara – den Tschad – Kamerun bis nach Aequatorial-Guinea – und zurück, mit unzähligen Zwischenlandungen, Bergbesteigungen und anderen Abenteuern, eingeschlossen eine Notlandung auf dem letzten Track in Spanien, Schwimmwesten an, Schuhe aus, Benzinspur aus dem lecken Tank sichtbar in die Luft dampfend… eine meiner insgesamt drei Crash-Landungen, wovon eine mit einer Linienmaschine – bis zum Totalschaden der Flugzeuge, aber immer unverletzt – unglaublich (ps. der Fluglehrer war am Steuer) ! Motto: “ Die Dummen haben immer Glück “ – nochmals unglaublich aber diesmal wahr!! Erleben, Erleben, Erleben!!!

In den 60er und 70er Jahren amtete ich als Filmlehrer in der Migros-Klubschule. Und wie einst beim Fernsehen holte mich eines Abends der Direktor – und wieder erwies sich meine Befürchtung zum Glück als falsch, eine Rüge zu kassieren – und verriet mir, auf Konzernebene werde jemand gesucht der eine Medienstelle aufbauen könne, und ich sei da der gesuchte Mann. Ich ging hin, und der Vertrag kam zustande: 1981 bis 1994 durfte ich Neue Medien für die damals 80’000 regional voneinander weit entfernt wohnenden Mitarbeiter entwickeln. Nur schade, dass das Internet noch nicht bestand.

Der Präsident der Gruppe, den ich sehr verehre, schrieb seine Bücher. Und mein Chef sagte zu uns, seinem Team, „ihr müsst nicht lesen, ihr müsst eure Bücher selber schreiben“. Ich hatte zum Schreiben keine Zeit – ich sagte immer, ich könnte das mal im Himmel tun – dort hätte ich dann Zeit.

In der Gruppe galt die Vorschrift, dass Kader mit 62 Jahren den Posten verlassen müssen. Auch ich wurde 62. Ich hatte indessen durch meine aus Haïti stammende Frau dieses neue Land kennen gelernt und hier ein Haus als Alterswohnsitz vorbereitet. Haiti war nochmals Karl May, Erlebnis, Abenteuer in Hülle und Fülle. Hier bin ich jetzt mit dem Internet, pflege meine Homepage und beginne wieder zu lesen (und hie und sogar zu schreiben!).

Stufe Drei der Trilogie. Dabei helfen alte Fotos und Souvenirs. Aber was lese ich? – Es ist endlich Zeit! – meine Abenteuer. In „Hugo Nünlist, Abenteuer im Hölloch“ (Huber-Verlag Frauenfeld 1960), denn hier sind viele meiner Abenteuer von damals beschrieben. Für Leute, die nur lesen können. Ich jedoch bin privilegiert: denn ich habe sie e r – l e b t, und ich habe jetzt Zeit zum Lesen. Und kann n a c h – erleben!

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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