Gleich nach Miragoâne geht die Sonne unter

Dorf

Datum: 04. Januar 2010
Uhrzeit: 14:37 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Wir wollen die Piste erkunden, die der Nordküste der 250 km langen haitianischen Tiburon-Halbinsel entlang schnurstracks nach Westen führt. Wenn man im engen Miragoâne glücklich die richtige Abzweigung erwischt hat ( Wegweiser gibt’s keine ), gelangt man an verlotterten Blockstein- und Wellblechhäusern vorbei nach wenigen Metern „ins Freie“.

Nach kaum einem Steinwurf spult man an den ersten Karstspiegelaustritten und Stromquellen vorbei, die zu linkerhand gleich in Serien aus den Schwammkalken austreten, meist einen See mit Mangroven und prächtiger Vegetation hinterlassend. Als Naturfreund und Höhlenliebhaber bin ich natürlich hingerissen, aber meine Begleiter schreien vor Schreck, wenn ich das Teufelszeug betrete um ein Foto zu schießen. Sie glauben, dass man da gleich verschlungen werde, auf Nimmerwiedersehen, versteht sich, runter zur ( richtigen ) Hölle. Allerdings haben sie sich gründlich getäuscht; einen echten, alten Hölloch-Forscher verschlingen die nicht mehr so leicht!

Nach weiteren Steinwürfen passiert man gespenstisch-ausgestorbene Ruinen. Miragoâne war nämlich dereinst nicht nur ein Seeräuber-, sondern ein echter Goldhafen, damals als hier noch Goldrausch regierte. Es war die Reynolds Metals Company ( RMC ), die hier Bauxitminen schuf und zwanzig Jahre lang betrieb. Die Bevölkerung glaubte zu unrecht (und glaubt den Unsinn noch heute), dies seien Goldminen, und natürlich seien es die bösen Amerikaner, die das Gold stählen, wie voreinst Kolumbus. In Wirklichkeit brachten sie Arbeit, das halbe Land konnte davon leben. RMC war der zweitgrößte Aluminumproduzent der U.S.A. und der drittgrößte der Welt.

In den 80er-Jahren ekelte Jean Claude Duvalier RMC hinaus, auch „Baby Doc“ schien nur goldenen Unsinn zu glauben. Er gönnte den Armen die Arbeit und den Amis das „Gold“ nicht mehr, er wollte das lieber ins Familienkässeli stehlen und später beim Schweizer Bundesgericht darum kämpfen. So gibt es seither in Tiburon nur noch „Arbeitsplätze“ für Seeräuber und Schmuggler, Marktfrauen und Missionare sowie ein paar Schiffsstauer und Schreiberlinge.

Max Hardberger lässt in seinen Büchern, Thrillern und DVD’s Schmuggler und Seeräuber wieder aufleben. Der Mann spricht aus Erfahrung. Er war selbst Kapitän auf der „Christmas Eve“, als er 1988 in Miragoâne ankerte und ist seitdem vom Captain zu einem der erfolgreichsten Abenteuer-Schriftsteller aufgestiegen. Der schillernde Vogel war auch Flugkapitän, Autor und Produzent von Thriller- und Brutalo-DVD’s und machte sich als Abenteuer-Schriftsteller einen Namen. Er gründete mehrere Gesellschaften in Zusammenhang mit Schifffahrt, Wiederauffindung verlorener Schiffe und Ladungen, dazu passende Versicherungen, eine Filmgesellschaft und schließlich eine Gesellschaft zur Entwicklung von Nippes, er hat sich dem neuen Departement mit seinem Zauber und den freundlichen Menschen verschrieben. Sein Traum ist auch die Wiedereröffnung des 25 Jahre lang verwaisten Flugplatzes der Reynolds Industrien.

Damit scheint die Geschichte des Seeräuberhafens aber erst zu beginnen, denn neuerdings haben sich Max Hardberger und die Bigio Family zu einem Joint Venture zusammengeschlossen. Die Bigio Family ist gegen die Coca-Cola-Company und damit den internationalen Kapitalismus, den „Colaismus“, angetreten, und über eine dritte Entwicklung, die Anerkennung Miragoânes als internationaler Hafen mit entsprechenden Ausbauplänen weiß ich noch weniger Bescheid, da dies erst in den letzten Tagen bekannt wurde und das Internet noch keine Nachrichten feilbietet. Aber: die Zukunft Miragoânes verspricht wieder interessanter zu werden als auch schon. Was das allerdings an der Armut und der Lotterwirtschaft ändern wird, ist eine andere Frage.

Der Normalbürger beschränkt sich auf Beten. Das hat bisher nicht geholfen, und die Blauhelme entdeckten den gottverlassenen Flecken erst zum Prügeln, auch das hat nicht geholfen. Kirchen und Schulen sind in einem desolaten Zustand, und an eine Wirtschaft ist nicht zu denken. Außer der erwähnten Bauxitmine gab es ab 1981 in Petite-Rivière-de-Nippes, der einzigen kleinen Stadt dieser Küste ausserhalb Miragoânes, eine Zitronenölfabrik, die einige Arbeitsplätze bot.

Wegen des Militärputsches fiel Haiti dann einem jahrelangen Embargo zum Opfer, das auch die letzte Fabrik von Tiburon von Zulieferungen abschnitt und die letzten Arbeitsplätze abwürgte. Seit 1997 gibt es auf der Halbinsel nur noch zwei Fischereigenossenschaften und etwas Berglandwirtschaft in den Steilen. In Petite-Rivière-de-Nippes steht das einzige Hotel, das La Manolo Inn. Es wartet auf eine Straße und auf Touristen. Mit Glück gibt es nachts Strom und WIFI, drahtlosen Internet-Empfang. Deshalb bin ich gerade hier, für einige Tage, neben zwei Rotkreuz-Angestellten. Nur schwere Brummer und Motorräder fahren gelegentlich vorbei. In einigen Planschbecken können sich Goldfische und könnten sich Gäste tummeln, wenn es solche gäbe.

Was könnte denn helfen, fragen Sie mich. Ich meine, so sehr ich sie hasse, es brauche Politik, endlich. Es brauche Autonomie, wie einst im Jura ( pardon, jetzt werde ich doch noch politisch ), sonst kommt man nicht in die Regierung, kann nicht sprechen und wird nicht gehört, bleibt nur Demonstrieren und Prügeln. Auch wenn das dauert. Und trotzdem: Auch der Schweizer Kanton Jura ist entstanden, und Nippes entstand auch, 2003, als sich Miragoâne, Anse-à-Veau und Baradères vom Department Grand’Anse lossagten und das zehnte haitische Departement gründeten. Mit 260’000 Menschen, nämlich 218 pro km², immerhin. Wenn man die übervölkerte Hafenstadt abzieht, bleibt für die große, gebirgige Landschaft fast nichts mehr übrig. Es gibt ja auch fast kein Brot, und keine Arbeit.

Viel Arbeit gäbe es nur für Politiker. Es bräuchte aber noch ein paar findige Köpfe, die soll es geben, und eine „demokratische“ Wahl lokaler Senatoren. Dann könnten Hilfsgelder fließen, vielleicht, für Straßen, Brücken und Arbeitsplätze. Denn hier überleben – schlecht und recht – immerhin dreihunderttausend Menschen.

Weiter außen folgt nur noch das ebenso verlassene Departement Grand’Anse mit Jéremie, wo der Bischof thront, ist aber von Norden her nur mit dem Schiff zugänglich, und wenn man das bezahlen kann, per Flugzeug.

Für uns geht es immer noch über Schlammgräben weiter, genau gegen die untergehende Sonne. Manchmal auch über Flüsschen und Flüsse hinweg, die nicht ständig begehbar sind. Dann ist Nord-Tibaron völlig abgeschnitten, Wochen- und monatelang, und Brücken sind so unbekannt wie Wegweiser. An der einzigen Piste wurde allerdings schon „etwas gemacht“; seit meinen letzten Besuchen vor Jahren wurden immerhin einige Karren Schotter aufgeschüttet, in denen wenigstens die Brummis nicht stecken bleiben.

Aber von einer Straße ist das Ding noch weit entfernt. Seit den zwanzig Jahren da ich hier bin wird von einem Strassenprojekt nach Jérémie geflunkert, und wieder heißt es, in dem gerade begonnenen Jahr ( 2010 ) solle er kommen, der erste Spatenstich. Eine Brücke über den fürchterlichen Fluss „Grande Rivière de Nippes“ inbegriffen, der heute noch das Ende jeder „Straße“ oder Piste bildet, den größten Teil des Jahres nicht überquerbar ist und schon hunderte von Menschenleben gekostet hat. Selbst jetzt bei Niedrigwasser ist an eine Überquerung nicht zu denken. Vereinzelte Todesmutige lassen sich trotzdem hinübertragen.

Tiburon braucht keine Abenteuer-Geschichten. Tiburon ist selbst ein Abenteuer. Tiburon, das sind 300’000 Menschen ohne Arbeit, ohne Wirtschaft. Tiburon, das sind 250 km vergessene Halbinsel auf einer Insel, und darin liegt das übersehene Nippes. Ohne Straße, mit einer halben Piste, die Wirtschaft im Keime erstickt, die Straße im Stadium der Hoffnung stecken geblieben. Die Kirche hat nicht geholfen, die Schule nichts genützt, die Politik hat versagt, die Proteste haben nichts gebracht, hilft jetzt die Unterhaltungsindustrie,  ungewollt) Coca Cola, und das Rote Kreuz?

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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