Heute schon wieder ein Mord. In Sichtweite von unserem Haus. Die Sicherheitssituation scheint sich zu verschlimmern. Etwa 100 oder 200 Meter tiefer unten im Erosionskrachen- liegt am Schluchtgrund die kleine Kirche des Weilers tèt de lo- wo die jüngeren Burschen und Mädchen täglich runterklettern und abends raufpusten, von der Arbeit zu ihren Häusern, oder oft täglich zur Kirche auf und absteigen.
Heute im ersten Tagesgrauen weckte mich Melissa und holte mich auf den Balkon, um mir etwas zu zeigen. Ich sah unten hinter der Kirche im Morgengrauen eine riesige Menschenansammlung, natürlich wusste schon jedermann Bescheid. Zenglendo (Räuber) seien aufgetaucht und hätten von den Kirchgängern Geld verlangt; ein Ehepaar, das über keines verfügte, hätten sie kurzerhand erschossen, will heißen zu erschießen versucht. Die Frau war nämlich „nur“ schwer verletzt und wurde ins nächste Spital gebracht, der Mann war sofort tot. Die Ganovenbeute reichte nicht einmal, um die beiden Patronen zu bezahlen.
Schließlich trafen auch Polizei und der Friedensrichter ein, um der Bürokratie Genüge zu tun. Die Menschen haben kein Vertrauen in die Hüter der Gesetze, hiess es doch gleich, diese Nutznießer seien ohnehin Mitwisser und kassierten noch Geld für ihr Stillschweigen. Nach ein paar Stunden verzog sich die Menschenmenge. Wie es der Angeschossenen geht, weiß ich nicht. Ich würde hoffen, der neue Präsident könne seine Versprechen wahr machen und Ordnung schaffen. Die Bevölkerung ist sich allerdings einig, dass dies von der Bourgeoisie als Affront betrachtet und neue Unruhen provozieren würde. Ich begreife den Wunsch vieler nach Diktatur; sie haben die Nase von dieser Demokratie voll.
Ich arbeite ja gegenwärtig an einem neuen Buch, soeben ist STRICK UND STRUCK ins Lektorat gegangen. Die Lektorin hat sich entsetzt, dass es in Haiti noch so aussieht. Sie sei nun doch froh, in Deutschland zu wohnen. Ich habe geantwortet, bei mir sei das nicht der Fall, sonst hätte ich ja nichts mehr zu schreiben …
Die internationale Polizei und MINUSTAH sehen solchem Treiben tatenlos zu. Die Bürokratie ist so weit, dass sie von ihren Waffen nur zur Selbstverteidigung Gebrauch machen dürfen. Gilt die „Sicherheit“ des Weltgesichts denn nur für die Weißen und nicht für alle?
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