In Haïti, dem Nachbarland der Dominikanischen Republik, sprayen die Menschen Gefühle an die Wand, das Mauerbesudeln ist noch erlaubt. Es sind hier nicht Kriminelle, die Mauersudler, wie man das so schön bei uns drüben sagt. Es sind Leute, die nicht schreiben können, ihre Gefühle und Gedanken an die Wand pinseln. Die Maler sind manchmal Hochgebildete, mit Uni-Ausweisen aus den USA, aus Kanada oder Frankreich, Philosophen die etwas denken und sich so ausdrücken können, dass sie von jedem „verstanden“ werden. Ganz grosse Künstler jedenfalls, die Strassenkünstler.
Heute früh tuckerten wir in die Stadt hinunter, ich wollte 2-3 Mauerbilder knipsen, die ich mir bei der Vorbeifahrt einst gemerkt, aber nie abgelichtet hatte. Sie ist doch jedesmal wieder gut für neue Wunder, diese Zwei-Millionenstadt, oder endlose Trümmermeile. Es war kapp nach fünf, „grand-matin“, wie die Kreolen für die Morgenfrühe sagen. An den Steilen über Canapé vert wird wie wild gebaut, die Arbeiter der haïtischen „Mittelschicht“ sind schon voll an der Arbeit. Endlose Treppen aus Sandsäcken scheinen bis zum Himmel zu klimmen, und immer häufiger ist Zimmermannsarbeit sichtbar. Hölzerne Dachstühle, von denen man beim nächsten Erdbeben kaum mehr Tote erwartet. Die kleinen, knallbunten Holzhäuschen, meist in der gleichen Farbe zu ganzen Siedlungsblöcken zusammengefasst, findet man eher auf dem Lande, es ist ein ganz neuer, eigensinniger Landschaftstyp der entstanden ist. Ich nenne sie mal „Erdbeben-Postlandschaft“.
Unter im Tal entstehen die mächtigen „erdbebensicheren“ Geschäftshäuser, manchmal 20stöckige Turmbauten aus Beton und Glas, statisch ausgelastet und ausgeklügelt, niemand kann glauben, dass so was den Goudou-goudou (Erdbeben) standhalten kann. Und wenn es sich ausnahmsweise einmal um Wohnbauten handelt, so sieht man sofort, dass die wohl das Mehrfache des in Europa Üblichen kosten werden. Niemals werden hier haïtianische Menschen wohnen, geschweige denn die, die noch in den Zeltlagern auf Wohnstätten warten.
Es scheint, dass die Planenden, Schaltenden, Habenden damit rechnen, dass jeder Mensch einmal sterben muss, und einfach darauf warten. Das ist die billigste Lösung. Und die, denen das Neue Haïti (bezahlte) Arbeit bringt, die sind gerade und noch lange erst unterwegs zu ihren Arbeitsstellen. Es sind meistens Ausländer. Weil es die für solche Projekte nötigen Fachkräfte im Lande gar nicht gibt, müssen die aus dem Ausland, weltweit gesucht und nach Haïti geholt werden, ins Land, wo die eigenen Bürger keine Arbeit finden. So paradox ist das. Ich habe oft das Gefühl, die Notgroschen der Welt (Milliarden) fliessen in diese Monsterprojekte des Neuen Haïti, die Armen, die Hunderttausende haben ja ihre Zelte, die sollen so zufrieden sein. Sie stehen dem Wiederaufbau ohnehin im Weg. Scheinen die zu denken. Häufig füttern sie die Hilfswerke noch periodisch, so dass sie eigentlich nichts mehr brauchen.
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