Den Strassen entlang begegnet man den Besenbrigaden. Zu tausenden stehen Menschen mit Besen an der Piste – diesmal keine Ausländer –, manchmal wischen sie auch singend und tanzend, den gleichen Fleck Asphalt wohl immer wieder. Alles strahlt jetzt vor Sauberkeit. Wir fragen uns, wer die Tausende wohl bezahlen wird, das ist ja Utopie. Wohl ging es dem Boss gar nicht um materielle Dinge, wie den Menschen mit den Besen, sondern um Publicity und Motivation. Ob die bleibt, wenn bei den Menschen für längere Zeit der erhoffte Zahltag ausbleibt, ist eine andere Frage.
Ich fantasiere, dass sich der Spiess leicht umdrehen könnte, so wie ich die Haïtis kenne. Aus Wut, Rache oder Not: sie könnten ja den Abfall selber wieder auf die Strassen werfen, um ihn in Geld umzuwandeln. Es gibt noch andere Denkspiele, aber wichtig ist, dass es im Augenblick sauber ist wie noch nie, und dass Tausende die blitzblanken Strassen wischen. NOCH sauberer, das geht gar nicht mehr.
Und sicher ist, dass das Volk nun endlich seinen geliebten Führer hat. Es ist ruhig und friedlich, jeder getraut sich wieder auf die Strasse, und dass die politischen Querelen in den obersten Etagen andauern und Premierminister und Regierung immer noch harzen, ist den meisten Menschen der Strasse schnurz und egal. Sie haben jetzt ihren Boss, und erwarten Wunder von dem.
Es steht schon alles im Titel: Sie haben jetzt ihren Boss. Wenigstens ist Ruhe. Das erste Jahr neigt sich bald dem Ende zu. Und noch nie hat es das gegeben, keine politischen Tote, keine Scherben und Schlägereien, vorher gab es das jeden Tag. Auch wenn der geliebte Boss immer noch keine Regierung hat weil sich alle streiten, auch wenn er mit den Regierungsproblemen in diesem Unland nicht zurecht kommt – wer hatte das anders erwartet, und wer hätte das fertigbringen können – der Pöbel hält Ruhe, das ist doch ein unglaublicher Fortschritt. Den muss man sehen, und nicht immer nur meckern!
Bevor wir am Ziel, unserer Mauer-Malerei ankommen, entdecken wir am Strassenrand ein anderes Fresko: genau das, worüber wir eben gesprochen haben. In doppelter Lebensgrösse lächelt Boss Tet Kalé (Kahlkopf) alias Micky von der Mauer herunter, umringt von all den Erfolgssymbolen nach den Wünschen des Volkes: unter dem Titel «Nouvelle Haiti» (Neues Haiti) einige Roboter und Himmelsgeschosse, Zahnräder und andere Ausgeburten der Technik, eine Eisenbahn, wohl die Traumbahn mit Viadukt von Haiti nach Florida hinüber, städtische Bauten aus gemischten Kulturen, die Grantambou (Grosse Trommel), eine Gitarre und ein Fussball. Die Zeichen der Zeit.
Nach den Wünschen des Volkes? Die Wünsche werden fabriziert! Es sind genau wieder die Monsterprojekte des Neuen Haïti, die ich eben geschildert habe. Die ausgebildete Arbeitskräfte brauchen, wie sie aus dem Ausland importiert werden müssen. Die an der Armut und Arbeitslosigkeit, dem schlechten Bildungsstand und den übrigen Nöten des Landes und seiner Menschen nichts ändern, man kann die ja sterben lassen. Das braucht etwas Geduld und ist am billigsten, ich sagte es schon. In die Ecke gedrängt aber immerhin erwähnt und erkannt ist der Reis- und Ackerbau und der grösste Reichtum, die einmalige Landschaft. Dies ist die Ecke, wo sich die Probleme lösen müssen; SIE müsste nach ganz oben rutschen, IHR würde ein Ehrenplatz gebühren, und Technik und Raumfahrt müssten auf die kleinste Ecke zusammenschrumpfen. Verstanden, Herr Martelly? Aber der versteht ja kein Deutsch .
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