Brasilien: Fortschreitende Demontage eines Staatsoberhauptes

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Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff ist sichtlich angeschlagen (Foto: agenciabrasil)
Datum: 08. Juli 2015
Uhrzeit: 20:39 Uhr
Leserecho: 3 Kommentare
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Das südamerikanische Land Brasilien wird vom größten Korruptionsskandal in seiner Geschichte erschüttert. Fast täglich werden neue Schmiergeldaffären aufgedeckt, in denen Politiker, hochrangige Manager und auch die Regierungspartei verwickelt sind. Die wirtschaftliche und politische Krise der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas veranlasst inzwischen immer mehr Politiker, Ökonomen und gewöhnliche Brasilianer zu überlegen, was einst undenkbar schien: dass Präsidentin Dilma Rousseff, wiedergewählt vor weniger als neun Monaten, ihre zweite Amtszeit nicht beenden könnte (Ablauf 2018). Niemand erwartet allerdings, dass sich die 68-jährige innerhalb kürzester Zeit zum Rücktritt entscheidet.

Konnte die Regierungspartei den Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras noch erfolgreich aus dem Wahlkampf von Rousseff heraushalten, schlagen Monate später die Wellen über ein auch körperlich sichtlich angeschlagenes Staatsoberhaupt zusammen. Dem einstigen Vorzeigekonzern und Nationalstolz Brasiliens geht es wie den meisten Staatsunternehmen Lateinamerikas, er wird wie in den Nachbarstaaten Venezuela und Argentinien zu Regierungszwecken missbraucht, manipuliert, ausgeplündert und heruntergewirtschaftet. Dass Präsidentin Dilma Rousseff, von 2003 bis 2010 Verwaltungsratsvorsitzende von Petrobras, von den illegalen Machenschaften rund um ihren Schreibtisch nichts gewusst haben will, nimmt ihr ein Großteil der brasilianischen Bevölkerung nicht mehr ab.

Alleine die öffentliche Diskussion über ein Absetzungsverfahren, gerechtfertigt oder nicht, zeigt wie tief das Staatsoberhaupt in der Gunst der Bevölkerung gesunken ist. Noch vor fünf Jahren sonnte sich Rousseff auf den Rockschössen ihres Vorgängers Lula da Silva, der inzwischen selbst ins Visier der Behörden gerückt ist. In Zeiten des Rohstoff-Booms wurde Brasilien zum Star unter den Entwicklungsländern, ein jährliches Wirtschaftswachstum von 7,5 Prozent weckte Neid bei den „entwickelten“ Staaten der Welt.

Inzwischen ist wieder die Realität im ewigen Land der Zukunft eingekehrt. Wie bereits mehrfach in der Vergangenheit wurden die großen brasilianischen Fortschrittsträume wieder von einer ernüchternden Realität eingeholt. Rezession, steigende Arbeitslosigkeit und eine Inflation von fast 9 Prozent treiben die Umfragewerte von Rousseff in Richtung einstelligen Bereich. Laut einer am Dienstag (7.) vom Beratungsunternehmen „Eurasia Group“ veröffentlichten Umfrage hat sich die Wahrscheinlichkeit, dass Rousseff frühzeitig von ihrem Amt zurücktritt, innerhalb der letzten Tage von 20 auf 30 Prozent erhöht.

Inmitten öffentlicher Kritik und einer oftmals unter die Gürtellinie gehende Berichterstattung brasilianischer Medien, zeigt sich Rousseff trotzig und bestreitet jede Rücktrittsabsicht. Jüngste Meldungen über einen angeblichen Selbstmordversuch weist sie energisch zurück und bekräftigt, „Ich werde nicht fallen“. Die Demontage setzt sich allerdings auch bei Mitgliedern ihrer regierenden Arbeiterpartei fort. Die Linkspartei rebelliert und widersetzt sich ihren laufenden Bemühungen um die Sparmaßnahmen, die von den meisten Ökonomen als „wesentlich“ bezeichnet werden.

Selbst der ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, möglicher Kandidat für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2018, distanzierte sich in letzter Zeit zunehmend von Rousseff. Kürzlich verglich er das Ansehen seiner Nachfolgerin bei der Bevölkerung mit den fast leeren Wasser-Reservoirs in dem von der Dürre geplagten São Paulo. Regierungsbeamte sprechen von einer „Beschädigung an der Basis“, die im Februar dieses Jahres besonders deutlich wurde. Das Unterhaus wählte Eduardo Cunha zum neuen Präsidenten der Abgeordnetenkammer. Der Abgeordnete aus Rio de Janeiro erhielt bereits im ersten Wahlgang 267 Stimmen, der von Rousseff vorgeschlagene Kandidat der Arbeiterpartei (PT), Arlindo Chinaglia, lediglich 136 Stimmen. Die Presse bezeichnete die Wahl des 56-jährigen Widersachers der Regierung als „schwere Niederlage“ für die PT. Im Kongress haben nun rechte und reaktionäre Abgeordnete die Mehrheit.

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  1. 1
    herbert merkelbach

    Dass Dilma nichts von der Korruptiopn innerhalb Petrobras gewußt haben soll, das kann sie ihrem Beichtvater erzählen. Wahrscheinlich wird der es auch nicht glauben.
    Was mich aber manchmal so auf die Palme bringt, ist, dass sie so manchen brasilianischen Unternehmer ermutigt, Waren nach Venezuela zu liefern. Ihr ist doch die wirtschaftliche Situation in VE ganz genau bekannt. Mit anderen Worten, sie ermutigt Firmen mit Lieferungen nach Venezuela um sie in den Ruin zu treiben. Aus VE kommt kein Geld und das ist ihr bekannt. EINE HEUCHLERIN GRÖSSTEN AUSMASSES. Sollte sie aus dem Amt verjagt werden, in meinen Augen rechtens.

    • 1.1
      Martin Bauer

      „…dass sie so manchen brasilianischen Unternehmer ermutigt, Waren nach Venezuela zu liefern. …“
      Da stellt sich, wie immer bei Geschäften mit der venezolanischen Regierung seit Chávez, die Frage, ob und wenn, wieviel im Einzelfall denn geliefert wurde. Typischerweise geht es immer nur um Pro-Forma-Lieferungen kleiner Mengen, wenn überhaupt, um einen viel zu hohen Geldbetrag aus Venezuelas Staatskasse zu kaschieren, der zwischen PSUV Funktionären und dem Scheinverkäufer geteilt und auf privaten Auslandskonten überwiesen wird.

      Mir selber wurden von Verwandten hoher Regierungsmitglieder solche Angebote gemacht, die ich aber ausschlug, nicht zuletzt um nicht in die Abhängigkeit solch krimineller Elemente zu geraten.

      Der entscheidende Unterschied zwischen Korruption unter Kapitalisten und Sozialisten ist: Der Kapitalist saugt nur so viel Blut aus seinem Opfer, dass es noch immer prächtig gedeihen und so auch in Zukunft noch gemolken werden kann, während der Sozialist es schnellstens total aussaugt, so dass es lebensunfähig wird und danach nur noch dank staatlich legalisierter Insolvenzverschleppung existiert.

      • 1.1.1
        herbert merkelbach

        Danke für die Hintergrundinformation. Dann stellt sich doch auch wieder die Frage: dies muss einer DILMA bekannt sein?
        Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Dame in der Welt umherirrt, ohne die „realen oder wirklichen“ Abwicklungen von Geschäften zwischen Venezuela und Brasilien zu verstehen, mitzubekommen was wirklich abläuft. Wie man jetzt der Presse entnehmen kann, die Korruption in Brasilien hat sie nicht eingedämmt, die war ihr bewusst. In meinen Augen ist diese Frau nicht ehrlich und wie gesagt, eine Heuchlerin.

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