Überlebens-Strategien in Haiti

Truemmerraeumung

Datum: 23. April 2010
Uhrzeit: 06:51 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Welches sind die Prioritäten. was ist am wichtigsten, haben wir uns in diesen Tagen gefragt und die maroden Schulen gemeint. Heute geht es uns um noch höhere Prioritäten, um die Prioritäten des Überlebens. Es sind Überlegungen, die man in normalen Verhältnissen nie machen würde, die sich aber in einer Katastrophe wie gehabt aufdrängen.

Die Prioritäten des Überlebens sind, nach meiner Meinung, Luft Wasser Essen Dach Wohlsein und Bildung. Das beginnt schon mit der Luft, ohne die man nicht atmen kann. Und erstickt. Wie viele Verschüttete ersticken mussten in Staub und Schutt, bleibt unbekannt. Auch vom Wasser musste man sich fernhalten, vom Wasser der Überschwemmungs-Katastrophen des Tsunami und der nachfolgenden Wirbelstürme. Und man benötigt GUTE Luft, um zu atmen und gesund zu bleiben. Der Leichengeruch in den stark zerstörten Siedlungen war entsetzlich, und man verkehrte nur noch in Masken. Wenn Impfstoffe vorhanden waren, wurden die Menschen geimpft, denn die Seuchengefahr war enorm.

Dann das Wasser, das Waschwasser, aber vor allem das Koch- und Trinkwasser. Je nach Alter braucht der Mensch 2-3 Liter davon, jeden Tag, sonst ist das Ende nah. Wassermangel ist das Gefährlichste nach jedem Erdbeben, denn alle Versorgungs- und Röhrensysteme sind zerstört. Die UNO hat denn auch sofort Überlebens-Spezialisten aus den USA eingeflogen, die per Radio verbreitet haben, wie man mit einem Plastiksack über einem gegrabenen Loch im Staub Kondenswasser sammeln und den täglichen Trinkbedarf stillen kann. Wenn man das Taschenradio im Schutt nicht dabei hat oder die Batterien erschöpft sind, nützt das allerdings auch nicht mehr. Die Blauhelme haben unverzüglich Verteil stellen für Flaschenwasser oder Wassersäcke aus Plastik eingerichtet.

Nächste Priorität hat das Essen. Ich erinnere an die Beschreibung in Macht und Ohnmacht der Medien, wie schon am zweiten Tag in unserem Freilandbiwak ein UN-Fahrzeug zur „Brücke“ hinauf schnurrte , dem Endpunkt der befahrbaren Piste, und uns Mais, Reis, Öl und Wasser für ein paar Tage brachte. Ich konnte den Hilfswerken nur das beste Zeugnis ausstellen und ließ die Medien meckern und das Gegenteil behaupten. Ähnliches hörte ich auch in den vielen Telefongesprächen, die man ja immer so mitbekommt.

Mit dem Dach über dem Kopf wird es schwieriger. Da Regenzeit und Wirbelstürme folgten und bald alles unter Schlamm und Wasser lag, versuchten Regierung und Staatengemeinschaft mit Zeltstädten zu helfen. Die bestehen heute noch, aber die Regenzeit dauert nach wie vor, und die Probleme mit dem Morast sind aus dem Flimmerkasten genügend bekannt. Ähnliche Verhältnisse kenne ich aus eigener Erfahrung und würde hier die Verallgemeinerung der Medien ausnahmsweise mal tolerieren. Das fehlende Dach über dem Kopf ist auch mein Problem, denn mein Haus ist bekanntlich nicht mehr, und dass ich auf der Suche bin und wohl für einige Zeit in die Bergburg einziehen werde, habe ich geschildert. Außerdem hat mir ein rühriger Leser ein kleines Zelt geschickt, aber solang es nicht mehr bebt in den Bergen, ziehe ich die Berg burg vor.

Eine nächste Priorität nenne ich „Wohlsein“ und meine damit Hygiene, Gesundheit, für Ausnahmen „Medizinisches“, ich bin glücklich, keine Ausnahme zu sein. Heißt dass man durch Einstellung und Lebensweise gesund bleiben und Medizinen und Mediziner vermeiden soll, es wenigstens versuchen soll. Zum Wohlsein gehört auch Positiv denken, VON ALLEM die Vorteile finden, Motiviert sein, glücklich sein, selbst im Unglück. Hat auch mit den Werten zu tun, anerkannt sein, eben nicht „der Reichste“ scheinen, „über Nacht Millionär“ werden, der „Erfolgreichste“ sein – zwar vielleicht doch, kommt drauf an, welches Maß man auf die Messlatte schreibt…

Und endlich die Bildung, Bedürfnis von jedermann, jederfrau, ein Menschenrecht, die nächste Priorität. In Prioritäten der Schule habe ich die eben geschildert, weil ich der Schule eher verhaftet bin als dem allgemeinen Blabla, der „Philosophie“. Von meiner Ausbildung und der eigenen Geschichte her. Und in jener Kolumne hab ich auch erwähnt, dass die Hälfte der 9 Millionen Einwohner in Haiti Kinder sind, und dass 1000 von ihnen nach ihren Bedürfnissen befragt worden seien, dabei habe sich als oberste Priorität ganz klar der Wunsch nach Rückkehr in die Schule ergeben. Eine Schule, die nicht existiert, weniger denn je. Die so dringend reformiert werden muss, doch das dauert Jahre. Und die Kinder, die wachsen unterdessen aus dem Schulalter heraus und haben nie eine Schule besucht. Nur Haiti, das wächst nicht aus den Tragödien heraus.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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