Traurige Tage sind dies, Gedenktage und andere Denktage. Zuerst der 12. Januar- Jahrestag des Schreckensereignisses. Der Tag war hier auffallend still und fand in den Kirchen statt. Niemand arbeitete, es gab keinen Strom, Restaurants und Tankstellen waren alle geschlossen, Geschäfte ohnehin. Der Verkehr lahmgelegt, nicht einmal Strom. Also auch Schreibpause.
Erst gegen Abend hörte man wieder einiges Leben, von diskutierenden Halbwüchsigen, wo das Leben offenbar am stärksten knospet. Man hörte von weitem vor allem zwei Worte: Goudou-goudou und Cholera. Selbst die Halbwüchsigen schienen ernst, ungewohnt. Es war still. Man hörte kaum aus einer Kirche Singen und die üblichen, lauten Gebete. Man hörte auch nicht Weinen. Beklommene Stille.
Das war es, was ich hier hörte. Im Ausland hörte man mehr, in den großen Städten der Welt. Da fanden die langen Reden, die Gedenkfeiern statt. In New York, in Genf. Die wissen es ja auch immer besser. Übrigens die unbeteiligten Zuschauer generell, die wissen es sogar am besten, das ist immer so. Besonders gewisse Schmierfinken, die aus Europa aus dem Wohnzimmer berichten- und dabei beim Übersetzen Fehler machen. Da bedauerte der Direktor der größten Tageszeitung hier, Le Nouvelliste, dass er in Genf sprechen müsse statt in Port-au-Prince. Dort fand ein Colloquium statt über die Lage Haïtis 1 Jahr nach dem Erdbeben. „Haïti, les lendemains qui tremblent“ (Die Tage nach dem Erdbeben, die auch zittern).
Haiti, das Nachbarland der Dominikanischen Republik, ist ein Land der Hilfsorganisationen geworden, die über jede Menge Geld verfügen. Kaum eine hat Rechenschaft abgeliefert, wie viel Geld sie erhalten haben und was damit geschehen sei. Regierung und Staat haben keines und sind noch ärmer als vorher. Die großen Organisationen, es sind unterdessen tausende, machen was sie wollen, sitzen nicht zusammen, planen zwar aber jede für sich. Erzeugen Puzzlestaaten vor sich hin, ein Puzzle, das allerdings nie zusammen passt. Wenn Chauvet gefragt würde „Wo ist Haïti 1 Jahr später?“ müsste er ehrlicherweise antworten: „Ich weiß es nicht“. Er endet mit dem Satz: „Lasst uns zittern, liebe Freunde, aber lasst uns nicht zusammenbrechen“.
Wohl sind ein Heer von Denkern, Spezialisten, Organisatoren, Internationalen, Nothelfern, ehemaligen Präsidenten des In- und Auslandes am Werk. Allein die Aufgabe ist zu groß, ungeheuer, wird immer unmöglicher, ohne die fortwährend neugeborenen Katastrophen dazu zuzählen. Und was geschieht? Es kommen immer mehr solcher Organisationen, mit ihrem Material. Jede stürzt sich auf ein Problem, das ist durchgeplant, aber links und rechts davon geschieht nichts, oder etwas Kontraproduktives, was die vermeintliche Lösung wieder zunichtemacht.
Nehmen wir als Beispiel die Wahlen. Heute ist auch ein Denktag, weil heute, am 16. Januar 2011, die zweite Wahlrunde geplant war. Sie findet nicht statt. Aus Angst vor dem Bürgerkrieg, dem ist aber zum Glück auch die Luft ausgegangen. Am 7. Februar hätte er seine Arbeit beginnen müssen, der neue Präsident. Das wird nicht möglich sein, es gibt ihn gar nicht. Laut Didier Le Bret, Botschafter Frankreichs, hat die Organisation Amerikanischer Staaten OEA Regierung und Wahlrat entmachtet, sie hat selbst im Wahlzentrum nichts mehr zu suchen, keinen Zutritt zu den Zählungen. Das Wahlzentrum ist von Panzern und Lastwagen voll Blauhelmen bewacht, das Quartier für den zivilen Verkehr gesperrt. Der vorher führende Kandidat Jude Célestin bekam den Freipass, infolge seiner undemokratischen Gruselmethoden und denen seiner gekauften Banden. Eine Stichwahl ist jetzt gefragt zwischen Manigat und Martelly, aber der Wahlrat der dafür zuständig wäre scheint – meines Erachtens auch zu Recht – ausgebootet und entmachtet zu sein. Präsident Préval anerkennt die OEA-Empfehlungen keineswegs und kennt die zudem angeblich nur aus der Zeitung. Das Durcheinander ist perfekt.
Ricardo Seitenfus, ist das nicht ein Urideologe und Systembereiter Fidels?, vertritt wieder eine ganz andere Meinung, und manchmal bekomme ich den Eindruck, Politik werde jetzt von einer Anzahl ausländischer Botschafter gemacht, statt von einer Regierung. Natürlich von interessierten Gross-Staaten, die Schweiz ist bekanntlich immer neutral und hält sich da raus. Selbst die Medien widersprechen sich.
Vielleicht ist die Hauptsache, dass es seit einiger Zeit ruhig zu sein scheint. Den Randalierern scheint das Töten, Wüten und Zerstören verleidet, es bringt ja auch keine Lösung. Aber wie es weitergeht, weiß im Moment niemand. Es scheint, dass Préval bis zum 14. Mai bleiben kann oder muss, wie er es eigentlich immer wollte. Und die liebe UNO versagt noch und noch, und immer noch.
Die ehrlichste Antwort kommt, wie meistens, von haitianischer Seite. Sie kommt nämlich vom wohl besten Kenner der Szene, von Chauvet. Seines Zeichens Generaldirektor und Chefredaktor der renommiertesten Tageszeitung hier, und „Sammeldirektor“ aller einheimischen Medien: „Ich weiß es nicht“. Ich habe dasselbe ja schon lange gesagt. Dafür muss ich aber nicht nach Genf reisen, ich schreibe Kolumnen, und da muss man nur schreiben was man um sich hört
Leider kein Kommentar vorhanden!