Es ist der vierte Oktober 2009, kurz vor 9 Uhr. Wir hottern mit einem lädierten Mazda eine „Strasse“ hinauf, die immer enger und steiler wird, fallen in immer tiefere Löcher, die sich schliesslich nicht mehr umschlängeln lassen, und bleiben stecken.
Wir verriegeln das Fahrzeug, denn ein Notebook und anderes attraktives Gepäck bleibt drin, und klimmen zu Fuss weiter.
Es ist die „Rue Prévost“ in Carrefour-Feuille, einem der bis kürzlich verruchtesten Quartiere der „Prinzenstadt“ nach dem Namen,
ich möchte eher sagen „Piratenstadt“ nach der Bedeutung, einem der Quartiere, die noch vor Jahresfrist von bewaffneten Banden beherrscht wurden, die weder Staat noch Gesetz anerkannten und gegen andere Quartiere Bandenkriege führten. Wohlverstanden oft mit Kindersoldaten. Dank mutiger Einsätze der Blauhelme wurden diese Quartiere befriedet, nicht ohne Opfer.
Es war in jener gefährlichen Zeit, als die deutsche Stiftung Haiti Care ( http://www.haiticare.de/ aktuell/index.php ) hier eines ihrer grossartigen Projekte realisierte und das Montessori-Kinderforf mit der MEVA-Schule baute. Ganz nach dem Vorbild und den Prinzipien von Maria Montessori, die 1907 im schlimmsten Slumviertel Roms das erste Kinderhaus gegründet hatte, in dem ebenfalls verwahrloste Kinder der sozialen Unterschicht betreut und unterrichtet wurden.
Heute, am 4.Oktober 2009, sollte der 5.Geburtstag der „Maison des Enfants du Village de l’Avenir“ ( Kinderhaus des Dorfes der Zukunft, abgekürzt MEVA ) gefeiert werden. Die steile Rue Prévost war mit Ballonen geschmückt, die gegen die Schule hin immer zahlreicher wurden und zugleich den Weg wiesen, den Weg nach oben zum Erfolg.
Eine unscheinbare Tafel vor dem Haus weist darauf hin, dass hier auch Berufskunde getankt wird, für Zöglinge jeden Alters: Kunstgewerbe, Blumenbinden, Schneidern, Kochen, Sticken, Knüpfarbeit, Nähen und was sonst noch dazu gehört.
Wenn man den engen Hausflur hinaufsteigt, da öffnen sich übereinander und hintereinander grosse, verschachtelte Räume voller Überraschungen, heute auch voller Festballone und kulinarischer Leckerbissen, und vor allem voller Kinder. Sauberer, aufgestellter Kinder, die nicht glauben lassen, dass dies einmal „Cocorats“ ( Strassenkinder ) und Kindersoldaten sein sollten. Das hat die MEVA fertiggebracht, eine echte Befriedungsarbeit ohne die Waffen der Blauhelme !
300 Kinder der 1. bis 5.Primarklasse bildet sie aus, eine 6.Klasse wird jetzt eröffnet. Dies entspricht dem Stadium von 6 bis 12 Jahren, der Zweiten Entwicklungsphase nach Montessori. In dieser Phase ist das Kind besonders empfänglich für Anreize aus der Umwelt, etwa im Zusammenhang mit Bewegung, Sprache oder sozialen Aspekten.
Findet das Kind während der sensiblen Phase eine Beschäftigung, die seinen Bedürfnissen entspricht, ist es zu einer hohen Konzentration fähig, man nennt das „Polarisation der Aufmerksamkeit“. Konzentration und Aufmerksamkeit sind denn auch gefragt bei den mehr oder weniger kurzen, den mehr oder weniger kindgerechten und den mehr oder weniger trockenen Ansprachen, ohne die es halt bei keiner Feier geht.
Dazu kommt dass diese in mehreren Sprachen vorgetragen wurden, aber die seit fünf Jahren gebildeten Kinder sind ja bereits mehrsprachig, und nach ihren Reaktionen zu schliessenschienen sie das Meiste zu verstehen. Im Vergleich mit anderen Schul-Feiern war ich allerdings erstaunt über die Selbstdisziplin der Redner und Rednerinnen – sie hielten sich allesamt an die Zehn-Minuten-Regel und entlockten mit witzigen Einlagen dem jugendlichen Publikum manchen Lacher.
Ich habe auch gestaunt, wie gelöst die MEVA-Knirpse lachen konnten. Nichts von dem verklemmten Schulgeist wie ich ihn aus meiner Jugend von öffentlichen Schulen her kenne, aber auch hier in Haïti schon öfters beobachten konnte, oder genauer gesagt, musste.
Es war dies beileibe nicht mein erster Besuch einer Schulfeier in diesem Land. Ungezwungen und freundlich war das Verhalten dieser Jugend, sie spielten ihre Scetches und trugen ihre Lieder und Gedichte frei, ungezwungen, humorvoll und ebenfalls in verschiedenen Sprachen vor, von Lampenfieber war nichts zu spüren.
Die grossen Urwaldtrommeln wurden von Grossen gespielt, sie erinnern an die afrikanische Vergangenheit, auf die die Haïtianer stolz sind. Trommeln ist eine alte Tradition in Haïti, und eine Trommel findet selbst im Staatswappen platz. Das Tamtam ist in Afrika ein Sprachrohr ebenso wie ein Musik- und Tanzinstrument, und Trommeln fehlen auch in Haïti bei keinem Fest.
Nach dem Vorspiel eines Trommelstücks begann die MEVA-Jugend zu den wirbelnden Rhythmen zu tanzen. Da konnte man wieder mal sehen, dass die Haïtianer Feuer in den Adern haben, und zwar schon die Kleinen ! In anmutigen Tänzen ahmten die jungen Grazien die Arbeit der Bauern und Marktfrauen nach, die ihre Landprodukte feilbieten.
Ein Jüngling mimte köstlich einen Auftritt Michael Jacksons, des kürzlich verstorbenen „Königs des Pops“, brausender Applaus war ihm gewiss. Man erkennt sogleich, dass Tanzen schon den Kindern im Blut liegt. Die brauchen keine grosse Choreographie mehr um anzukommen. Jedes Fest hat ein Ende, denn die Arbeit muss weitergehen.
Dreihundert Ballone stiegen unter dem Beifall von Kindern und Eltern gegen den Himmel und wurden vom Wind fortgetragen in eine unbekannte Zukunft, an einen unbekannten Ort. Um diese unbekannten Ziele sicherer zu machen, dazu hat die MEVA diesen Kindern ein gutes Werkzeug mitgegeben, es braucht jetzt nur noch sehr viel Arbeit, und Glück. Das wünschen wir den Kindern, MEVA und Haiti Care von Herzen !
Ja, Montessori-Schulen gibt es heute auf der ganzen Welt. Aber an der MEVA hätte die Frau Montessori ganz bestimmt die grösste Freude gehabt, wenn sie die noch hätte erleben können. Dass dies beileibe nicht mein erster Besuch einer Schulfeier in diesem Land war, habe ich bereits geschrieben. Aber es war mit Bestimmtheit die schönste !
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