Die beiden Gedanken sind keineswegs dasselbe, aber durchaus aktuell. Wenigstens hier in Haïti, dem Nachbarland der Dominikanischen Republik.
Der Gott ohne Kirche besteht für Menschen, die zwar an eine höhere Wesenheit, Macht oder Prinzipheit glauben, die Sein, Leben und Naturgesetze geschaffen hat, vielleicht räumlich-zeitlich und zahlenmässig neutral. Dieser Gott kann auch nicht gezählt werden, etwa in Ein-, Zwei- oder Mehrzahl. Er kommt sowohl in allen Religionen als auch im Verständnis von Menschen vor, die an ihn glauben, aber dazu keiner Regeln oder Institutionen bedürfen. Jeder lebt seine eigene Kirche. Trotz „räumlicher Neutralität“ ist es ein Gott, wie er in der „entwickelten“ Welt anzutreffen ist, bei den eher gebildeten Denkmenschen, die Freiheit von Ort und Zeit betrifft ja nicht ihn, sondern die entsprechenden Gläubigen.
Dasselbe gilt für eher Gefühlsmenschen in den Entwicklungsländern, etwa so wie in Haïti. Hier besteht der Gott ohne Kirche zwar nicht, weil man tief gläubig ist und den Regeln der Institutionen folgt, aber hier erfüllt die Kirche auch ausserkirchliche Funktionen. In einer Welt der Wirren und Todesbeben, der Seuchen und Todesstürme, der ständigen Todesängste und Traumata. Wesen und Wirken der „Kirche ohne Gott“ sind lebenswichtig auch für Un- und Andersgläubige.
Kirchen oder Peristyle sind starke Magneten, die die Menschen zusammenziehen und zusammenhalten, manchmal jeden Tag mehrmals. Sie vereinigen wohl alle sozialen Funktionen und sind wichtiger als Staat oder Stamm, selbst dort wo die funktionieren. Man stelle sich nur vor, wenn die Menschen OHNE Kirchen oder Peristyle leben müssten. Sie würden sich höchstens um bestimmte Projekte im Freien treffen, vielleicht um Dämonen oder Teufel fernzuhalten.
Ich habe bewundert, wie in und vor den Kirchen gerappt und getanzt, Freude und Fröhlichkeit erzeugt wird; bei uns sind Openair-Festivals zwar auch ein soziales Event, aber vor allem eine Industrie der Geldmacher. Ich habe selbst Einladungen angenommen und mich verschiedener Ausflüge in sonst unbekannte Gegenden und Strände erfreut, die von irgendwelchen Kirchen organisiert wurden, dabei sah man den Unterschied zwischen Arm und Reich kaum mehr. Auch Aufklärungsanlässe und Vorträge gehören zum Angebot der eifrigen Kirchen, zum Beispiel zur Vorbeugung gegen Cholera. Die Angebote der Kirchen geniessen das Vertrauen der Bevölkerung, die von anderen Anbietern immer wieder bestohlen wird. In den Bergen bewunderte ich auch die Gelände für Sportplätze und Ferienkolonien, ein Angebot das von den Schulen versäumt wird.
Kirchen oder Peristyle sind auch die ersten Grundlagen einer Bildung. Auch bei unseren Vorfahren waren es die Klöster, die zuerst Lesen und Schreiben lernten, lehrten und auch Bücher herausbrachten. Die ersten Schulen wurden durch Mönche und Nonnen geführt, und religiöse Institute sind heute noch weltweit am Werken. In Algerien waren es während der Revolution die Soldaten, die Schule gaben – Religiöse waren verpönt.
Auch im modernen Frankreich ist das Vorzeigen religiöser Symbole verpönt. Christenkreuze an den Wänden sind so verboten wie Kreuzschmuck am Hals, und gegen die Abneigung der muslimischen Kopftuchfrauen musste ich sogar einst Filme produzieren lassen. In Haïti tragen die Wagen der Rotkreuzorganisationen neben dem Roten Kreuz auch einen Roten Halbmond, weil die Kreuze als religiöse Symbole missverstanden werden könnten …
Kirchen oder Peristyle waren schon „drüben“ Borne der Bildung, und Kultur ohne Kirche war direkt Sünde und Suizid. Musik, Malerei und schöne Künste entwickelten sich in den Kathedralen, und hier in Haïti bewundere ich die Klänge der Traumkompa, Trommeln und Tänze den ganzen Tag – völlig gleichgültig welchen Stils und von welcher religiöser Gruppierung. Natürlich könnten die Gruppierungen auch anders entstehen, aber dazu fehlt jede Motivation. Und die Menschen jeden Alters singen, spielen, tanzen und freuen sich sicht- und hörbar des Lebens, das ihnen in den Trümmern geblieben ist.
Religiöse Gruppierungen sind auch Trostspender, bei Todesängsten, Erdbebenverlusten und Hoffnungelosigkeit. Die Betroffenen können mit einem verständnisvollen Partner diskutieren und wieder Hoffnung schöpfen. Die Menschen glauben in ihren Kirchen, bekommen wieder Mut und werden etwas glücklich und aufgestellt. Das Teilen der Gefühle mit anderen kann schlummernde Synergien freilegen. Die Kirchen machen das, was der Staat verpasst.
Kirchen sind auch Garanten der Werte, vor allem ethischer (vgl. „10 Gebote“). Man wird darauf getrimmt, einander zu helfen, Auch die Ärmsten geben den noch Ärmeren immer etwas und helfen ihnen, zu überleben. Ohne Kirchen und Religionen wäre dem Verbrechen Tür und Tor geöffnet.
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