Ich habe mich entschlossen, nach Einsendung meines vierten Buches, den Titel verrate ich vor Annahme durch einen Verlag noch nicht, ein fünftes zu schreiben. Oder wenigstens anzufangen: eines über Politik. Nicht nur Hispaniola, sondern immer mehr kommt mir der ganze Westen als Bananeninsel vor. Das oben abgebildete Fresko von einer Mauer soll der Buchdeckel werden. Denn in dem wunderbaren Fresko ist alles enthalten.
Daraus das Kapitel „Sie haben jetzt ihren Boss“. Ich dachte nämlich, das sei eine gute Momentaufnahme für das heutige Haïti.
«Wanted Obama» steht ein paar Meter daneben immer noch auf den Mauern, und immer wieder frisch, von Politik verstehen sie eben nicht allzu viel, die Schreier und die Sprayer. Aber wenigstens wissen sie sich auszudrücken. Ohne Scherben, Flammen, Tote und Verletzte. Und das ist doch viel.
In Haïti sprayen die Menschen Gefühle an die Wand, das Mauerbesudeln ist noch erlaubt. Es sind hier nicht Kriminelle, die Mauersudler, wie man das so schön bei uns drüben sagt. Es sind Leute, die nicht schreiben können, ihre Gefühle und Gedanken an die Wand pinseln, damit sie jeder sieht. Die Maler sind manchmal Hochgebildete, mit Uni-Ausweisen aus den USA, aus Kanada oder Frankreich, Philosophen die etwas denken und sich ausdrücken können, dass sie von jedem «verstanden» werden. Das können bei uns drüben nicht alle Philosophen, sie sind zu gescheit – werden nur noch von Edelhirschen verstanden. Hier aber sind sie alle ganz grosse Künstler, die Strassenkünstler, Philosophen oder nicht.
Heute früh tuckerten wir in die Stadt hinunter, ich wollte 2-3 Mauerbilder knipsen, die ich mir bei der Vorbeifahrt einst gemerkt, aber nie abgelichtet hatte. Sie ist doch jedesmal wieder gut für neue Wunder, diese Zwei-Millionenstadt, oder endlose Trümmermeile. Es war kapp nach fünf, «grand-matin», wie die Kreolen für die Morgenfrühe sagen. An den Steilen über Canapé vert wird wie wild gebaut, die Arbeiter der haïtischen «Mittelschicht» sind schon voll an der Arbeit. Endlose Treppen aus Sandsäcken scheinen bis zum Himmel zu klimmen, und immer häufiger ist Zimmermannsarbeit sichtbar. Hölzerne Dachstühle, von denen man beim nächsten Erdbeben kaum mehr Tote erwartet. Die kleinen, knallbunten Holzhäuschen, meist in der gleichen Farbe zu ganzen Siedlungsblöcken zusammengefasst, findet man eher auf dem Lande, es ist ein ganz neuer, eigensinniger Landschaftstyp der entstanden ist. Ich nenne sie mal ganz keck «Erdbeben-Postlandschaft».
Unten im Tal entstehen mächtige, «erdbebensichere» Geschäftshäuser, manchmal 20stöckige Turmbauten aus Beton und Glas, statisch ausgelastet und ausgeklügelt, niemand kann glauben, dass so was den Goudou-goudou (Erdbeben) standhalten kann. Und wenn es sich ausnahmsweise einmal um Wohnbauten handelt, so sieht man sofort, dass die japanische Preise kosten werden. Niemals werden hier haïtianische Menschen wohnen, geschweigedenn die, die noch in den Zeltlagern auf Wohnstätten warten.
Es scheint, dass die Planenden, Schaltenden, Habenden damit rechnen, dass jeder Mensch einmal sterben muss, und einfach darauf warten. Das ist die billigste Lösung. Und die, denen das Neue Haïti (bezahlte) Arbeit bringt, die sind gerade und noch lange erst unterwegs zu ihren Arbeitsstellen.
Es sind Ausländer. Weil es die für solche Projekte nötigen Fachkräfte im Lande gar nicht gibt, müssen die aus dem Ausland, weltweit gesucht und nach Haïti geholt werden, ins Land, wo die eigenen Bürger keine Arbeit finden. So paradox ist das. Ich habe oft das Gefühl, die Notgroschen der Welt (Milliarden) fliessen in die Monsterprojekte des Neuen Haïti. Die Armen, die Hunderttausende, haben ja ihre Zelte, die sollen zufrieden sein. Sie stehen dem Wiederaufbau ohnehin im Weg. Scheinen die zu denken. Häufig füttern sie die Hilfswerke erst noch periodisch, sodass sie eigentlich nichts mehr brauchen.
Es wird ab- und aufgeräumt, mit Bulldozern und anderen Ungetümen, aber am meisten mit Schaufeln und Stosskarren. Das gibt eine Zeitlang Arbeit. Wenn die Geschäftsbauten mal fertig sind, ist’s auch mit der Arbeit fertig – für die mit Schaufeln und Stosskarren, das sind die meisten.
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