Am 3.August fuhr ich nach Gressier, an riesigen Zeltstädten vorbei, Zelte sogar auf den Mittelstreifen der autobahnähnlichen Route des Rails, der Straße auf den ehemaligen Bahngeleisen. Ich wollte nach den Räumungsarbeiten am eigenen Haus und nach Überlebenden Nachbarn sehen, doch ich war eigentlich froh, dass sich die alle versteckt hatten, hinter ihren Tüchern und Zeltblachen.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich so feige bin, und war froh, möglichst rasch wieder abzufahren. Sie alle waren einst stolz auf ihre stattlichen Betonhäuser, mit Terrassen, manchmal Hallen, mehreren Geschossen, Garagen und prächtigen Parks. Die „Cité Paysan“ – Stadt der Bauern – war eine Stadt ohne Bauern, ein Nobelquartier geworden, bevölkert von Mittelständlern, Pfarrer, Ingenieur, Hochschulprofessor, Arzt und weiß nicht welche noch. Aber jetzt – alle schienen sich zu schämen ob ihrer neuen Wohnquartiere, ich allen voran.
Meine nächste Nachbarin war Eveline, eine einstige Geschäftsfrau mit mehrstöckigem Handelshaus in Carrefour und prächtigem Landhaus gleich neben meinem. Sie sei vom Beben überrascht worden und durch Betonlöcher ins untere Stockwerk gefallen. Mit Verletzungen hätte sie sich selber befreit und im Trümmerhaufen ihren Pass gesucht und gefunden. Ein Gast aus den USA sei an seinen Verletzungen gestorben, weitere Personen wurden vermisst. Verletzt gelang ihr die Flucht nach Amerika, wo sich ein Spital mit ihrem Zustand befasste, sie hatte genügend Geld dafür.
Ich erkannte noch einige Utensilien ihres ehemaligen Paradieses, sie hatte auch eines wie ich, von dem gleich wenig übrig blieb wie von meinem. Aber im Gegensatz zu ihr hatte ich die Chance, wenigstens unverletzt zu bleiben, und keine Todesopfer zu beklagen in meiner Umgebung. Außer Ata, meiner vierbeinigen Freundin. Ein weiterer unmittelbarer Nachbar war Ron, ein weißer Amerikaner, Er war früher Manager im Disney-Konzern und setzte sich frühzeitig ab, um hier als Missionar zu wirken und Schulen zu gründen. Und der Unternehmer Ernst, der schon das Pech gehabt hatte, gekidnappt zu werden und für die Freilassung sein Vermögen verlor. Und Oberson, der gelernte Ingenieur, der vor zwanzig Jahren mein Haus gebaut hatte und jetzt selber keines mehr hatte.
Gleich daneben eine Methodistenkirche, die von Gläubigen eifrig besucht wurde und für nächtliche Unterhaltungen, Gesänge, Musikdarbietungen sorgte, auch diese vermeintlich gutgebaute Kirche war völlig verschwunden. Es war das einzige Gebäude in meiner Nachbarschaft, das neu im Entstehen war. In Holzbauweise, auch mit zugehörigen Nebengebäuden in Holz.
Auch mir war von einem Hilfswerk eine hölzerne Notwohnung versprochen worden, in Art und Größe eines Gartenhäuschens. Aber in einer solchen Lage ist man über alles froh. Aber ich warte heute noch auf einen Hinweis, dass das nicht nur Schall und Rauch, und Hoffnung war. Das Häuschen war auf Anfang Juli versprochen, und meine Leute in Gressier haben den nötigen Platz vorbereitet. Haiti, das sich die Karibikinsel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, hielt seine Versprechen. Die Welt allerdings nicht!
Wenn das Wunder doch noch geschieht, berichte ich hier wieder darüber. Aber so habe ich immer noch keine Unterschlupfmöglichkeit in Gressier und wohne weiterhin bei der Familie meiner Pflegerin in den Schwarzen Bergen, in einem einfachen Haus nach „normaler Haïti-Bauart“, das ich liebevoll Bergburg nenne. Ich habe jetzt gelernt, dass man auch so leben kann, und ich lebe sogar „gut“. An Ansprüchen und Zufriedenheit zu trimmen, habe ich ja längst gelernt.
Leider kein Kommentar vorhanden!