Wir lernen mit Erschütterungen zu leben

Biwakplatz-heute

Datum: 20. Mai 2010
Uhrzeit: 09:33 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Ich meine nicht die Erschütterungen in der Erdkruste, die gibt es zwar auch noch. Erst diese Nacht um 00.30 Uhr schreckte ich auf, als der Boden wackelte. Schwerer erschüttert mich der Zustand Melissas, meiner rechten Hand seit einem Jahrzehnt. Sie wimmerte und stöhnte die ganze Nacht, so wie schon seit einiger Zeit, und der mühsame Gang ins Spital brachte überhaupt nichts als eine neue Schwächung. Das Resultat der Laboruntersuchungen, Blutbild etc., lässt auf sich warten.

Und wie die Menschen hier sind, spontan und manchmal unüberlegt, haben die vielen anwesenden Familienangehörigen entschieden, sie heute Nacht zu entführen. Weit in den Westen, in die Berge zu ihren Eltern, wo es überhaupt weit und breit keine medizinische Versorgung mehr gibt, nur noch viel Glaube und, hoffentlich wenig, Unglaube. Melissa war in ihrem Zustand weder entscheidungsfähig noch ansprechbar, aber ihr Kopfnicken signalisierte ihr Einverständnis. Glaube kann ja Wunder wirken, ich hoffe nur, dass dies auch jetzt so sei.

Der vergagene Samstag war besonders besuchsintensiv. Sie alle wollten die kranke Melissa sehen. Es waren interessante Menschen darunter. Maître Boucard – ich kannte ihn schon von früher – ist der Leiter von vier großen Schulen unten in der einstigen Prinzenstadt, die jetzt zur Ruinenstadt geworden ist. Alle vier Schulen seien eingestürzt, hunderte überlebender Schüler seien in Notschulen in den Zeltstädten umquartiert. In den verbleibenden, angeschlagenen Räumen des einstigen Schulgebäudes arbeite nur noch Personal, vor allem Sekretärinnen. Seine Meinung bezüglich des miserablen Gesundheitszustands Melissas ist, das seien eindeutig psychologische Spätfolgen. Sicherlich waren schon die ersten drei Traumas, die ich auch miterleben musste, außerordentlich: das verheerende Erdbeben, all die Schießereien, der Überfall in Paris mit Verlust aller Papiere und Güter, und ganz besonders die unvorhergesehene, gewaltsame Trennung der Familie während drei Monaten anstelle der ursprünglich vorgesehenen drei Tage, die ganzen Stress-Situationen bei all den folgenden Grenzübertritten ohne Visum – die Visa waren ja samt Pass gestohlen worden, und mehr – da bin ich leider auch überfordert.

So zog denn das traurige Gespann noch im Morgendunkel davon, und ich erhoffe mir nur, dass bald einmal die Sonne im Westen aufgeht. Schwester und „Apothekerin“ Gernite lässt sich auf meine unverhohlene Kritik ein und ist überzeugt, dass dies richtig sei, jeder Widerstand scheint zwecklos. Alle zusammen sorgen für unser und der Kinder Morgenessen, und frühmorgens verlässt uns auch Ulli, der „indische Konsul“. Allein will er vorstoßen nach Léogâne und seine Hilfswerk-Freunde und dort eine Internet-Verbindung suchen, er verspricht, abends wieder zurück zu sein. Auch Gernite geht weg, so bin ich allein im Haus mit den vier Kindern.

Für latina-press berichte ich exklusiv- direkt vor Ort- von meiner Rückkehr nach Haiti, das sich die Karibikinsel Hispaniola mit der Dominikanische Republik teilt. Im übrigen habe ich unter einem nur für Techniker verständlichen Titel als zweites heutiges Tagebuch das Kauderwelsch veröffentlicht, das ich hie und da als „Problemlösung“ erhalte, immer noch auf der Suche nach Verbindung. Falls sich das mal veröffentlicht und es zufällig ein Techniker liest, wäre ich für Hilfe soooo dankbar !

„Der Konsul“ hat mir übrigens eine Zigarre geschenkt, und die will ich jetzt rauchen. Bei einem Spaziergang, versteht sich. Ich habe es nötig.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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