Brasilien: Mehr als 580 Angriffe auf die Medien im Jahr 2020

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Verärgert über die hohen Corona-Infektions- und Todeszahlen in Brasilien erteilte Präsident Bolsonaro dem Gesundheitsministerium am 5. Juni persönlich die Anweisung, seine täglichen Bulletins erst am späten Abend an die Medien zu übermitteln (Foto: Archiv)
Datum: 29. Januar 2021
Uhrzeit: 13:48 Uhr
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Autor: Redaktion
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Im von der Corona-Krise beherrschten Jahr 2020 hat sich die Lage der Pressefreiheit in Brasilien weiter verschlechtert. Es gab 581 vor allem verbale Attacken auf die Medien, wovon 85 Prozent allein auf das Konto von Präsident Jair Bolsonaro und seinen Söhnen gingen. Das Ausmaß der Corona-Pandemie im Land verharmloste das Bolsonaro-Lager konsequent, weshalb viele Medien offiziellen Quellen keinen Glauben mehr schenken. Medienschaffende werden zunehmend juristisch verfolgt, staatliche Behörden benachteiligen unabhängige Medien. Reporter ohne Grenzen (RSF) beleuchtet diese Aspekte detailliert in seinem Jahresrückblick Brasilien 2020 (hier der gesamte Bericht auf Englisch mit allen Infografiken).

Im Laufe des Jahres 2020 hat RSF 581 Angriffe gegen Journalistinnen und Journalisten, Medien sowie die Institution Presse im Allgemeinen gezählt. 18,7 Prozent davon gingen von Präsident Jair Bolsonaro persönlich aus, 66,5 Prozent von seinen Söhnen Flavio (Senator), Carlos (Stadtrat in Rio de Janeiro) und Eduardo (Abgeordneter), wobei Eduardo mit 208 Attacken der mit Abstand aggressivste Vertreter seiner Familie ist. Die Zahlen hat RSF zusammen mit der brasilianischen Datenjournalismus-Organisation Volt Data Lab zusammengestellt und analysiert, die auch die Grafiken zum Bericht erstellt hat. Dieser Bericht schließt eine Reihe von Quartalsberichten über die Lage der Pressefreiheit in Brasilien im Jahr 2020 ab.

Frauenfeindliche Angriffe

Die ehemalige Kriegskorrespondentin und langjährige Reporterin der Zeitung Folha de São Paulo, Patrícia Campos Mello, ist bereits seit Bolsonaros Präsidentschaftswahlkampf im Visier seiner Anhängerschaft. Ihre Enthüllung, dass Geschäftsleute illegal eine WhatsApp-Desinformationskampagne zur Unterstützung Bolsonaros finanzierten, löste eine Online-Kampagne von Beleidigungen und Drohungen gegen sie aus. Im Februar 2020 sagte ein Mitarbeiter eines der beteiligten Unternehmen in einer parlamentarischen Untersuchungskommission aus, Mello habe versucht, gegen sexuelle Gefälligkeiten Informationen aus ihm herauszuholen. Mehrere Politiker gaben geschmacklose Kommentare ab, darunter Präsident Bolsonaro selbst. Sein Sohn Eduardo wiederholte die Unterstellung öffentlich. Es folgte eine Welle frauenfeindlicher Beleidigungen und Drohungen vor allem in den sozialen Netzwerken. Eduardo Bolsonaro wurde inzwischen dazu verurteilt, Campos Mello eine Entschädigung von 30.000 Real (rund 4.600 Euro) zu zahlen.

Dies hatte einen großen Einfluss auf Mello, wie sie später gegenüber RSF sagte: „Als gephotoshoppte Memes von mir verbreitet wurden, hörte ich auf, über Demonstrationen zu berichten“, sagte sie. „Das ist lächerlich, unser Land befindet sich nicht im Krieg und es sollte normal sein, über Demonstrationen zu berichten.“ Viele andere Journalistinnen waren ebenso sexistischen Angriffen ausgesetzt – darunter Bianca Santana, Vera Magalhães, Constança Resende, Lola Aronovitch und Maria Júlia (Maju) Coutinho.

Unzuverlässige Informationspolitik in der Corona-Krise

Verärgert über die hohen Corona-Infektions- und Todeszahlen in Brasilien erteilte Präsident Bolsonaro dem Gesundheitsministerium am 5. Juni persönlich die Anweisung, seine täglichen Bulletins erst am späten Abend an die Medien zu übermitteln, so dass die Zahlen nicht in den Abendnachrichten gemeldet werden konnten. Der vorläufige Gesundheitsminister Eduardo Pazuello kritisierte am nächsten Tag eine „Überberichterstattung“ über Covid 19 und ordnete Änderungen in der Zählweise an. Als Reaktion gründeten die führenden Medienunternehmen UOL, O Estado de S. Paulo, Folha, O Globo, G1 und Extra am 8. Juni eine Allianz, um ihre Informationen direkt von lokalen Behörden zu erhalten. Die Allianz ist für die brasilianische Bevölkerung noch immer die zuverlässigste Informationsquelle zur Pandemie.

Übergriffe vor dem Präsidentenpalast

Die informellen Pressekonferenzen, die Bolsonaro häufig vor dem Alvorada-Palast abhält, seiner offiziellen Residenz in Brasilia, wurden 2020 zum Symbol seiner Medienfeindlichkeit. In einer surrealen Szene, die am 3. März live auf seinen Social-Media-Konten übertragen wurde, stieg Bolsonaro gemeinsam mit einem Double aus seinem Dienstwagen und bat dieses, einen bekannten Komiker, Bananen an die Medienschaffenden zu verteilen (was in Brasilien eine Beleidigung darstellt). Am 26. März, demütigte er die Journalistinnen und Journalisten vor dem Alvorada-Palast und fragte sie unter anderem: „Haben Sie keine Angst vor Corona? Gehen Sie nach Hause!“

Immer wieder griffen Anhängerinnen und Anhänger Bolsonaros vor dem Palast Medienschaffende an. Am 26. Mai beschlossen die Globo-Gruppe, die Mediengruppe Bandeirantes, Folha und die Nachrichtenseite Metropoles, keine Mitarbeitenden mehr zu diesen Terminen zu schicken. Die Zeitungen O Estado de S. Paulo und Correio Braziliense schlossen sich dem an. RSF und Partner erstatteten inzwischen Anzeige und forderten bessere Sicherheitsmaßnahmen für Reporterinnen und Reporter. Inzwischen hat das Büro des Präsidenten Maßnahmen ergriffen, damit Medienschaffende und das Bolsonaro-Lager vor dem Palast nicht mehr aufeinandertreffen. Doch noch immer ist es einer der Lieblingsorte des Präsidenten, um kritische Medien zu beleidigen und zu verspotten.

Journalistinnen und Journalisten juristisch verfolgt

2020 waren brasilianische Journalistinnen und Journalisten sowie Medien einer Flut von Klagen ausgesetzt, die durch die Anti-Medien-Rhetorik des Bolsonaro-Systems befeuert wurden. Die meisten Klagen wurden von Regierungsbeamten oder von Verbündeten oder Unterstützerinnen und Unterstützern Bolsonaros eingereicht. Im Kommunalwahlkampf Ende des Jahres nahmen die Zahl zu: In mindestens 26 Fällen, so die Brasilianische Vereinigung für investigativen Journalismus (ABRAJI), wurden Nachrichten zensiert oder Kandidatinnen und Kandidaten forderten zumindest, Inhalte von Nachrichtenseiten oder sozialen Medien zu entfernen.

In einem Fall ordnete ein Richter im Bundesstaat Rio de Janeiro unter Androhung einer Geldstrafe an, dass Luis Nassif, Gründer und Herausgeber der Online-Zeitung Jornal GGN, und die Reporterin Patricia Faermann elf Artikel offline nahmen müssen. Die Artikel befassten sich mit angeblich unsauberen Aktivitäten der BTG Pactual Bank (zu deren Gründern Wirtschaftsminister Paulo Guedes gehört). Alle Artikel sind trotz Nassifs Berufung immer noch zensiert. Auch andere Journalisten wie Hélio Schwartsman, Ruy Castro und Ricardo Noblat, der Karikaturist Aroeira sowie Medien wie TV Globo, Folha, Ponte Jornalismo, The Intercept Brasil und UOL wurden wegen ironischer oder kritischer Kommentare oder Berichte über die Regierung oder einzelne Politikerinnen und Politiker verklagt oder mit Klagen bedroht.

Behörden werden instrumentalisiert

In einem Bericht kritisierte der brasilianische Rechnungshof TCU die mangelnde Transparenz bei der Zuweisung staatlicher Werbung durch das präsidiale Sekretariat für soziale Kommunikation Secom. Besonders wurde die bevorzugte Behandlung regierungsnaher Fernsehkanäle hervorgehoben. Im Juni wurde die Verantwortung für die Zuweisung staatlicher Werbung auf das neue Kommunikationsministerium übertragen. Als Minister wurde jedoch Fábio Faria ernannt, der Schwiegersohn von Silvio Santos, dem Eigentümer der regierungsnahen SBT-Mediengruppe und engen Freund von Bolsonaro.

Secom hat wiederholt regierungskritische Medien angegriffen und sie grundlos beschuldigt, „Fake News“ veröffentlicht zu haben. Im September begann die Behörde, falsche Informationen über die Brände im Amazonas zu veröffentlichen. Diese Informationen wurden von mehreren Ministerien weitgehend wiederholt und in den sozialen Medien verbreitet.

Bei einem seiner ersten öffentlichen Auftritte des Jahres am 5. Januar 2021 gab Bolsonaro bereits den Ton für das neue Jahr vor: Einige Medien seien „schlimmer als Müll, denn Müll ist recycelbar“. Die Presse verbreite „ständige Gerüchte und Lügen“ und sei mit ihrer Panikmache schuld an den inzwischen 210.000 Corona-Toten im Land. Die Angriffe des Bolsonaro-Systems auf die Medien werden zweifellos bis zum Ende der Amtszeit Bolsonaros weitergehen. Journalistinnen und Journalisten in Brasilien stehen vor der großen Herausforderung, trotzdem weiterzumachen, unabhängig zu bleiben und gleichzeitig das seit Beginn der Amtszeit Bolsonaros vor zwei Jahren immens beschädigte Vertrauen der Öffentlichkeit wiederzugewinnen.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Brasilien auf Platz 107 von 180 Staaten.

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