Haiti: Ich habe noch nie gesehen, dass Bäume so geblutet haben

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Datum: 03. August 2010
Uhrzeit: 15:59 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Für mich fast wichtiger als das Haus war der Garten. Das ganze Leben lang hatte ich von einem eigenen Urwald geträumt, den ich vor bald zwanzig Jahren in Haiti, das sich die Karibikinsel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, endlich realisieren durfte. Sie erinnern sich vielleicht, dass ich in Afrika viele Hochtouren wegen der faszinierenden Pflanzenwelt machte, Ruwenzori, Kilimandjaro und viele mehr.

Vielleicht erinnern Sie sich auch meines „Mini-Urwaldes“, den ich in meinem Waltensteiner Schulhaus in Töpfen zusammenkaufte, ich hatte dafür ganze Europareisen unternommen. Die Pflanzen blieben jahrzehntelang fast gleich, das Klima dort bekam ihnen nicht gut, wie mir auch. Also füllte ich sie bei meiner Pensionierung alle in Container, und mit den nötigen Papieren des Wädenswiler Pflanzendoktors und den übrigen Bürokraten hüben und drüben ging es auf die lange Reise. Mit wenig Nachhilfe entstand hier mein „tropisches Gärtchen“, wie es mein nun verstorbener Schweizer Freund Kaspar Frei liebevoll nannte.

Fensterblatt, Cycas, Croton sind nur wenige Beispiele für das Feuerwerk, das nun ablief, eine Explosion der Natur. Das Fensterblatt mit den Verwandten Philodendron und Monstera entwickelt große, zerschlitzte oder löcherige Blätter, die hier rasch Meter Durchmesser erreichen, ist in der „entwickelten“ Welt eine der beliebtesten Büro- und Zimmerpflanzen. Auch die Cycas bringen es in der Kälte kaum weiter; hier im Freien wachsen sie auch langsam, aber immerhin stärker; das interessante Ding soll wie die Schildkröten und Iguanas auf tertiäre Vorfahren zurückgehen und hat sich in meinem Garten sogar vermehrt. Croton oder Krebsblume ist ein Wolfsmilchgewächs und „bei uns“ ebenfalls eine beliebte Zierpflanze, mit vielfarbigen Blättern, die im Freien oft Gift signalisieren.

Die Blüten erfreuen unser Auge mit ihrer knalligen Pracht während des ganzen Jahres, man braucht nicht auf eine Jahreszeit zu warten, das ist in den Tropen unbekannt. Die Farben stehen denen einheimischer Maler nicht nach, oder sie wirken scheu und zurückhaltend wie bei den Kaktusblüten.

Die Blumen locken, unterstützt von betörenden Düften, noch kunterbuntere Schmetterlinge, Kolibris und Hummeln in ihre Kelche. Die Hummeln sind oft grösser als die zauberhaften Minivögel, die wie Hubschräuberchen in der Luft „stehen“ können, genauer auf der Stelle zu fliegen. Die kleinen Akrobaten fliegen ohne weiteres auch rück- oder seitwärts. An den Blüten stecken sie ihre langen Schnäbel wie Rüssel tief in die Pokale, um Nektar zu schlürfen. Einmal hatte sogar ein Kolibripärchen sein Hängenestchen direkt vor meiner Haustür gebaut, und ich wurde täglich Zeuge der liebevollen Brutpflege.

Ich hatte versucht, hier ein kleines Paradies zu realisieren, nach meinen Vorstellungen. Farbenpracht und Wohlgeruch meiner Blumenkinder waren von betörender Wirkung, ich hätte meinen Garten blindlings erkannt, wie früher die Duftwelten der vielfältigen Landschaften Afrikas. Daneben war die Natur voller vielfältiger Spiele. In meinem Garten boten sich, je nach Laune und Sonnenstand, anmutige Lichtspiele, manchmal auch rätselhafte Verwirrspiele. Und dies alles inner kürzester Zeit, ohne mein Dazutun und praktisch gratis. Ungleich der Masoala-Halle, damals in der Schweiz.

Dann das großartige Reich der Baumblätter. Das Geigenblatt war in Waltenstein ein Steckling, der es nach Jahren auf ein paar Dezimeter brachte. Hier in Haiti entwickelte er sich zu einem stattlichen Geigenblattbaum, der mehrere Meter Höhe erreicht, vor allem aber die andere Breite abgewinnt. Mir tat es jedesmal weh, wenn er gestutzt werden musste, aber er sorgte auch für Kinder rund um das Haus, die alle ebenso stattlich geraten sind. Daneben der Rotblätterige Gummibaum, der scheint rekordsüchtig. Er brachte es auf Dutzende von Metern und versucht, alles für sich zu fressen und kann kaum im Zaum gehalten werden. Auch der Palmlilie gefällt es so gut, dass sie mit andern Ehemaligen (Topfpflanzen) ein Dickicht bildet, und am Schluss steht nur noch Buschwerk und Urwald. Urwald allerdings, wie er in wenigen Jahren entstanden ist, aber wie er mir eben gefällt. Wild und geheimnisvoll.

Und dann die Wurzeln. Die müsste man eher außerhalb des Gartens bewundern, dort wo es für die großen, alten Bäume Platz gibt, im Garten hätte kaum ein einzelner der Riedenbäume Platz, er würde gleich alles abwürgen. Im Garten sind es vor allem die Wurzeln der Drachenbäume, die bald überhand nehmen und immer wieder abgeschnitten werden müssen. Aber sie sind trotzdem prächtig, für mich eine Augenweide. In meinem Garten fanden einige Drachenbäume Platz, hatten ihr Reservat. Denn in anderen, „gepflegten“ Häusern gelten die Drachenbäume als Unkraut und werden radikal ausgemerzt, mit Chemie und allen Teufelsmitteln. Die Wurzelwunder außerhalb des Gartens sind die mächtigen Luft- und Brettwurzeln der uralten Bäume in der „Natur“. Hie und dort bilden sie sogar Straßentunnels, die von Lastwagen durchfahren werden. Ähnliches ist von den titanischen Baumkronen zu sagen, etwa der „Mapoutes“, die tausend und mehr Jahre alt sein sollen. Etwa wie eine sagenumwobene, europäische Eiche. Ein solcher stand vor 20 Jahren noch in der Küstenebene vor meinem Haus. Er sollte verschwinden und zu Holzkohle werden, ich konnte das nicht verhindern. Sein Abhacken dauerte 10 Jahre, jetzt gibt es ihn nicht mehr.

Obschon meine Gartenbewohner natürlich holen, was an Essbarem zu holen ist – vor allem Brotfrüchte, Kokosnüsse und Bananen, Nüsse, Palm- und Kaktusfrüchte und Gewürze, will ich aus meinem Garten keinen Nutzgarten und keine Plantage machen. Gerne gestatte ich, dass meine Hauswächter reife Bananenhände auf den Markt tragen und so ein paar Gourdes verdienen, auch wenn ich manchmal selber meine Essbananen auf dem Markt kaufe. Aber mein Garten soll vor allem dem Auge und der Seele dienen, mir mit seinen schönen Pflanzen Freude bereiten. Die scheuen Zamias sind dort meine Lieblingskinder, verwandt mit den geschilderten Cycas, wie diese auch tertiären Ursprungs, und stets im Dickicht versteckt.

Es war eine Insel des Friedens und der Ruhe. Rund ums Haus wiegten sich am Rande der Terrassen über dem Garten Hängekörbchen mit tropischen Pflanzen und erfreuten das Auge. Für das Ohr war auch gesorgt, denn Windglocken hingen an jeder Ecke und lullten die Menschen in sphärische Klänge. Die letzten Klänge des Paradieses. Dann folgten Stille und Schreie. Die Schreie verklangen, die Stille blieb.

Die Kinder, kurz vor der Katastrophe. Zum letzten mal im Schwimmbad, zum letzten mal im Paradies. Dann ist es geschehen. Am 12.Januar 2010, um 16.53. In 35 Sekunden ist die Insel des Friedens dahin, mein ganzes Paradies zerstört, mit allem, was ich habe. Und ich hatte alles investiert, was ich schon in der Schweiz hatte, meine dortigen Häuser, und vieles mehr. Aber ich lebe noch, das ist die Hauptsache, hundertausende sind gestorben, ebensoviele verstümmelt, aus Millionen von Häusern ist Blockwüste geworden. Und auch die Bäume waren schwer verletzt. Ich habe noch nie gesehen, dass Bäume so geblutet haben. Das Paradies und meinen Garten, die habe ich fast zwanzig Jahre lang genossen, Kinder und Frau können das nicht mehr. Nur sie haben die Zukunft verloren.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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