Die Pechlawine ist noch nicht zu Ende

Fotap

Datum: 01. März 2010
Uhrzeit: 17:14 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Sie haben etliche Tage nichts mehr von mir gehört. Und keine Fotos mehr gesehen. Und dies obschon meine Erlebnisse keineswegs eine Pause eingelegt haben. Und obschon ich dringend eine solche nötig gehabt hätte. Ganz im Gegenteil, sie wurden abstruser, bizarrer, unglaublicher, gewalttätiger, und – europäischer.

Sie wissen ja, meine Odyssee endete Ende Februar vorläufig in Flums, dort wohnt meine Ehefrau und ich führe eine Adresse. Ich werde mich keineswegs in der Schweiz einnisten, sondern versuche nur drei Monate auszuhalten und aus sicherer Distanz zu beobachten, wie es drüben weitergeht. Dann soll es wieder in Haiti weitergehen, wo und wie, weiß ich noch nicht. So haben wir uns nach ein paar schweizerisch-kalten Wintertagen am 26. nach Paris verschoben, um alte Bekannte zu treffen. Dass Paris magnetisch ist, ist eine Binsenwahrheit und mit Binsenwahrheiten befasse ich mich ungern. Auch dass ich mich in dieser Stadt schon seit Studentenzeiten zuhause fühlte, versüßt die folgende, bittere Pille nicht.

Obschon es in Haiti keineswegs aufgehört hat und immer noch weiter schüttelt, sich die Jahrhundertkatastrophe bereits auf die Südamerikanische und die Nasca-Platte bis Chile ausgeweitet hat, Vulkane Menschen umbringen und Häuser verbrennen (Montserrat im Süden der berüchtigten karibischen Bruchlinie) und weitere Naturkatastrophen die Medien beherrschen (eben berichtet ein Radio über Tsunami-Alarm in 55 Ländern), muss ich einmal über meine persönliche Katastrophe berichten, die es auch gibt. Und die für mich auch so einen Weltuntergang bedeutet, ich schäme mich fast.

Es war der 20.Februar. Melissa hatte ein Schweizer Visum, „Motifs professionels“, das als Schengen-Visum einen Kurzbesuch von Paris erlaubte, wo wir einige „alte“ Kollegen besuchen wollten. Im Internet fanden wir einen Kursflug von Air France, der billiger war als eine Eisenbahnfahrt. Ohne lang zu überlegen gebucht und los. Métro und Fußweg zu „meinem“ Hotel, einem F1, waren – mehr oder weniger – auch noch im Kopf, und Hunger und Glust trieben uns ins angebaute „Courtepaille“ (ein Restaurant). Der Genuss meiner nachfolgenden Lieblingsspeise war wohl mein letzter „Aufsteller“ für lange zeit, denn kaum draußen und die wenigen Meter zum Hoteleingang hinter uns, überholte mich Melissa und trat ein, während ich ihr folgen wollte, und im gleichen Moment von hinten einen heftigen Schlag verspürte, der Bandit überholte mich blitzschnell, meine Tasche in der Hand.

Dass ich mich wie gesagt hier schon seit Studentenzeiten wie zuhause fühlte, entschuldigt meine Nachlässigkeit nicht, denn natürlich hätte ich meine (mehr als) Siebensachen geschickter verteilen müssen. Stattdessen hatte ich auch noch Melissas Haiti-Pass mit dem Schengen-Visum hier verstaut, so dass der Raubdiebstahl alles, aber auch wirklich alles betraf was wichtig war: In der Tasche waren nicht nur der Fotoapparat, mit dem ich die Bilder zu meinen Kolumnen geschossen hatte, Passaports, andere Papiere von uns beiden, Geld in mehreren Währungen, Identitäts-, Kredit- und andere Karten, Bankbüchlein, sämtliche Schlüssel, und anderes.

Ich schrie aus Leibeskräften und versuchte den Räuber zu verfolgen, der war aber entschieden schneller als ich und schwang sich in kühnem Flankensprung über das Abfriedungsgitter der Sicherheitszone. Die Sicherheitsleute des Hotels folgten aber konnten nichts Nützliches beobachten, die Bilder der Kameras ergaben auch nichts Brauchbares, und die schnell anrückende Polizei war so machtlos wie meist. Sie nahmen uns mit zum Posten, wo wir uns die halbe Nacht mit dem Ausfüllen von Papieren durch quälten.

Auch die folgenden Tage verbrachten wir ausschließlich in Botschaften. Als Schweizer Bürger war es mit den Polizeirapporten für mich relativ einfach, aber für die haitianische Staatsbürgerin Melissa schien die Situation aussichtslos. Die zuständige Behörde in Haiti existiert nicht mehr, das Gebäude der „Immigration“ ist ausgelöscht, die Dokumente auch, die Passmaschine zerstört. Normalerweise würde die Botschaft ein für die Ausreise gültiges „Laissez-Passer“ ausstellen, so wie es die Schweizer Botschaft für mich handhabte. Aber wegen der laufenden Katastrophe waren Flüge nach Haiti undenkbar, und Frankreich hatte die Repatriierung von Haitianern untersagt. Auf der Haiti-Botschaft war keine Hilfe und kein Ratschlag zu erhalten.

So flog ich am 25. mit meinem Laissez-Passer allein zurück in die Schweiz und ließ die arme Melissa in Paris bei meiner Tochter Nahomie. Ich selbst werde mich jeden Tag mit einem anderen Problem befassen müssen, zuerst mit der Beschaffung einer Identitätskarte. Dafür musste ich mich zuerst in der Schweiz anmelden und das Bestehen einer Versicherung nachweisen, obschon ich Ende April wieder abzureisen gedenke. Die ID-Karte ist jetzt versprochen, sie dürfte Ende Woche eintreffen. Auch ein neuer Pass ist bestellt, aber die wegen neuer amerikanischer Forderungen benötigte digitale Passmaschine sei im Land noch nicht vorhanden. So werde ich ein Problem nach dem andern lösen müssen, und irgendwann wird die Odyssee dann zu Ende sein. Oder wieder beginnen…

Für Melissa aber weiß noch niemand eine Lösung. In wenigen Tagen wird ihre Versicherung, bald auch ihre legale Bleibe in Europa ablaufen. Ich werde alles tun, um die finanziellen Probleme zu lösen. Aber diejenigen der Illegalität, da weiß noch niemand wie weiter. Ich kann nur hoffen, es dauert nicht zu lange, bis ich hier über eine Lösung berichten kann.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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